Reisevignetten aus der Mark Brandenburg III
Rheinsberg – Musenhof des jungen Fritz
Selten nur kommt deutsche Literatur ganz und gar leichtfüßig daher. Tucholskys mit dem Schloss gleichnamige Erzählung aus dem Jahr 1912 – im Untertitel als „Bilderbuch für Verliebte“ ausgegeben – zählt dazu. Von Handlung kann beinahe die Rede nicht sein. Petitessen wie die Besichtigung des damals schon öffentlich zugänglichen Schlosses am Grienericksee, zwei Bootspartien, ein nächtlicher Spaziergang, der Bummel durch die adrette Kleinststadt sowie ein Kinobesuch sind die harmlosen Vergnügen, denen sich die Verliebten hingeben. Freilich unter dem moralischen Vorbehalt, dass es sich bei den beiden Studiosi um ein – noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts horribile dictu – unverheiratetes Paar handelt, das unter Pseudonym reisen muss. Dennoch genießen die vermeintlichen Eheleute Gambetta ihre drei Rheinsberger Tage völlig unbeschwert.
Erotische Freizügigkeit durchwehte den Ort, vor allem aber des Schlosses Räume, seit der preußische Kronprinz Friedrich hier im Jahr 1736 seinen Musenhof gründete. Die Immobilie war ein Geschenk des königlichen Vaters Friedrich Wilhelm I. als Anerkennung für das Wohlverhalten des vordem aufrührerischen Sohnes einschließlich der Bürde, sich in die Ehe mit der braunschweigischen Prinzess Elisabeth Christine zu fügen. Der König wählte eine von Neuruppin, wo der Kronprinz seinen Dienst als Regimentskommandeur versah, bequem zu erreichende Örtlichkeit. Jeder unnützen Ausgabe abhold, hielt Friedrich Wilhelm den Baudirektor der kurmärkischen Kammer Johann Gottfried Kemmeter bei der Umgestaltung des recht anspruchslosen zweiflügeligen Renaissanceschlosses zu denkbarster Sparsamkeit an.
Immerhin verstand es Kemmeter, den Hauptbau durch einen Mittelrisalit zu akzentuieren. Bald jedoch zog der Kronprinz den jüngst von einer Studienreise aus Italien zurückgekehrten Clemens Wenzeslaus v. Knobelsdorff hinzu. Der nun versetzte Friedrich und seine Umgebung in ein architektonisches und gartenkünstlerisches Elysium, indem er den Seitenflügel mit seinem Rundturm durch ein stadtseitiges Pendant spiegelte und beide Türme mittels einer Säulengalerie verband. Im Inneren des Schlosses stellte v. Knobelsdorff alles auf Heiterkeit, Bequemlichkeit und Geselligkeit ab. Rheinsberg gibt sich als Lustschloss schlechthin. Freilich nicht allein als Gelegenheitsmacher für erotische Libertinage, Musik und Tanz. Zwar wurden die Damen mit Poesie bedacht und selbst Friedrich übte sich darin. Über die Treppen der Gartenparterres schwebend, unter Sphingen sich einfindend, sich in die Laubengänge und Grotten bergend, gewann für den Kronprinzen jene heitere Welt der Maler Watteau und Fragonard Wirklichkeit, die er bislang lediglich imaginiert hatte. Der preußische Hofmaler Antoine Pesne, zugleich Mitglied der Pariser Académie Royale, leistete solcher Stimmung künstlerischen Vorschub. An die Decke des licht durchfensterten Spiegelsaals zieht locker hingepinselt Apollo im Zweigespann herauf. Venus eilt ihm voraus. Fama verkündet beider Ruhm. Putti winden Blumengirlanden. Der Sonne Sinnbild und Gott der Künste weist allegorisch auf den Schlossherrn, der künftige Herrscher ist mitgemeint. In Residenzschlössern figuriert Apoll als Sinnbild absolutistischer Machthaber. Solche Perspektive freilich umgibt den Gott mit anderem Personal. Das Deckengemälde im Rheinsberger Spiegelsaal scheint sich über derartige Haupt- und Staatsmythologien zu amüsieren.
Hier im Spiegelsaal stand die Tafel des Kronprinzen, an der regelmäßig zwischen 20 und 24 Schlossbewohner und Gäste Platz nahmen. Zum Konzertsaal umfunktioniert, brillierte hier der König als Solist auf der Traversflöte, begleitet von einem Kammerorchester aus knapp anderthalb Dutzend Musikern, das er bereits in Neuruppin zusammengestellt hatte. Seinem Eifer für die Wissenschaften oblag Friedrich in einem Studio im Mezzanin des Südturms. Dort befasste er sich mit der Naturrechtslehre Christian Wolffs und korrespondierte mit Voltaire. Dort auch verfasste er den „Antimachiavell“. Der Parodie höfischer Gepflogenheiten diente der „Bayard-Orden“, ein fiktiver Ritterorden. Ernstere Absichten verbanden sich mit der von Friedrich gegründeten Freimaurerloge.
Wie ein böser Epilog des Rheinsberger Idylls befremdet jenes Gespräch, das der jüngst ausgerufene König dort – kurz bevor er das Schloss für immer verließ – mit dem Feldmarschall Graf Schwerin und dem für die Außenpolitik zuständigen Grafen Podewills führte: Der preußische Beutezug nach Schlesien war daraufhin beschlossene Sache.
Viel wird über Friedrichs Homophilie spekuliert. Fest steht, dass der König auf Rheinsberg zuweilen noch das Schlafzimmer Elisabeth Christines besuchte. Gleich unter welchen Voraussetzungen, Freude wird weder bei ihm noch der Gemahlin aufgekommen sein. Der Kronprinz hatte sich, wo auch immer, eine Geschlechtskrankheit eingehandelt, die jeder Partnerin und jedem Partner den Verkehr verleiden musste. Später unterzog er sich einem Eingriff, den Zeitgenossen mit einer Kastration verglichen. Johannes Kunisch erörtert das unappetitliche Thema in seiner Friedrich Biographie ebenso bündig wie präzise (Friedrich der Große. Der König und seine Zeit. München 2004).
Ab 1744 bezog des Königs Bruder Prinz Heinrich Quartier auf Rheinsberg. Heinrich lebte so offen homophil wie damals eben möglich. Etliche Räume ließ er zunächst im Geschmack des Rokoko – so den von Carl Gotthard Langhans entworfenen Muschelsaal – und später des frühen Klassizismus umgestalten. Nahe dem Schloss wurde ein Theater errichtet. Auch die Gartenanlagen erfuhren beträchtliche Erweiterung. Der Blickfang durch den Obelisken auf der Höhe jenseits des Sees ist ihm zu verdanken.
Seit 1953 wurde im Schloss ein Sanatorium für Diabetiker betrieben. Inzwischen lebt aufwendig restauriert, aber als Projekt noch immer unabgeschlossen, die Zeit der beiden Preußenprinzen wieder auf.