Versuch über Rossini – Fortsetzung 2
IV
Sei es durch Wagnersche Dominanz oder Schopenhauerlektüre, mit der Zeit wuchsen meine Bedenken gegenüber Rossini. Gut denkbar, beide standen auf mich einwirkend posthum in jenem Bund, den der Frankfurter Philosoph nie, der Bayreuther Meister dafür desto eher eingegangen wäre. Zunehmend stießen mir die zahlreichen Anleihen auf, die Rossini bei sich selbst genommen hatte. Richard Osborne hat sie akribisch nachgewiesen, doch hatten schon manche der Zeitgenossen die Selbstplagiate getadelt. Für den >Barbier< griff ich nur die signifikantesten heraus. Den Umstand, dass Rossini die Ouvertüre seines 1813 an der Scala uraufgeführten >Aurelio in Palmira< dem >Barbier< mindestens in Drittverwertung voranstellte, schenkte ich mir. Hingegen gelang mir nicht, vokale Übernahmen aus der die Eroberung und Unterwerfung Palmyras und seiner Königin Zenobia durch den römischen Soldatenkaiser Aurelian im Jahr 272 sowie die fiktive Liebesgeschichte zwischen der spekulationsumrankten Monarchin und dem persischen Prinzen Arsace abhandelnden opera seria lässliche Sünde zu nennen. Abwegig dünkte mich die Übernahme des den >Aureliano< eröffnenden, göttlichen Beistand wider den römischen Einmarsch ins Wüstenkönigreich erflehenden Priesterchors in Almavivas Schmachtfetzen „Eco ridente in cielo“. Einzig, wenn ich im Sehnsüchtig-Flehenden beider Nummern deren tertium comparationis bemühte, vollzog ich den Zusammenhang – widerwillig – nach. Freilich empfand ich die Verbindung als durchaus frivol. Nicht minder befremdete mich Rossinis Rückgriff auf das emphatische „Non lasciarmi in tal momento“, mit dem der Perserprinz Arsace sich von den Ufern des Euphrat aufmacht, um der geliebten Zenobia im Kampf gegen die Römer beizustehen, für den zweiten Teil von Rosinas schelmisch-mutwilligem „Una voce poco fa“. Kalt registrierte ich den auch in diesem Fall gegebenen Vergleichspunkt. Denn so, wie Arsace in den Kampf für die Angebetete eilt, sinnt Rosina darauf, wider den Vormund und unerwünschten Freier Bartolo für ihre Liebe zum vermeintlichen Lindoro zu streiten. Doch will der Rosina intrigant-listenreiches Gemüt sich kaum zum schlachtbereiten Ernst des Perserprinzen fügen.
Nicht aber, dass sich Rossini an einer opera seria zu Gunsten einer buffa bedient hatte, erfüllte mich mit Unbehagen, zumal ich bedachte, wie nahe Trauer- und Lustspiel einander oft kommen und wie häufig eines ins andere umzuschlagen droht. Missbehagen schuf mir vielmehr die Nonchalance, mit der Rossini sein Melos nicht allein die Pole der Entfernung zum jeweiligen tertium comparationis ausmessend verwertete, sondern darüber hinausschoss. Dennoch mochte ich nicht auf die Werke des Pesareser Meisters verzichten. Spätestens, nachdem mir – noch immer vortrefflich moussierend – ein Gutteil von >Il viaggio a Reims< in den launig-erotischen Schlichen von >Le comte Ory< wiederbegegnet war, so das hinreißende >Gran pezzo concertato a 14 voci< nun als erstes Finale, streckte ich die Waffen. Der deutungsoffene melodische Gestus der >preghiera< aus >Mosè in Egitto< schien mir die letzte Bestätigung meiner neuen Hörerfahrung. Ich gewöhnte mich daran, den Zusammenhang von Musik und Handlung in den Opern Rossinis als lediglich akzidentiell wahrzunehmen. Fortan verhielten sich Musik und Libretto wie wechselseitig erwünschte doch unverbindliche Angebote zueinander. Freilich ästhetisch oft höchst attraktive. Es konnte nicht ausbleiben, dass sich absolute Musik und Handlung zuweilen kreuzten. Mir genügte das.