Vom Zunftzwang zur Kunstfreiheit
- Kaminski
- Dezember 14, 2023 / 2. Tewet 5784
- Kunst & Architektur
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In Sachsen wurden Gewandhäuser zu Kulturbauten
Der mächtig ausladende und fünfgeschossig emporstrebende, überdies mit einem Uhrturm bekrönte Schausgiebel des Gewandhauses behauptet sich bis heute als eines der Zwickauer Wahrzeichen. Während der Name des Renaissancebaus aus dem Jahr 1525 blieb, wandelte sich im frühen 19. Jahrhundert seine Funktion von der Verkaufshalle der Fleischer und Bäcker im Erdgeschoss, der namengebenden Tuchmacher sowie der Kürschner und Schuster im ersten Stock seit 1812 zum Stadttheater. Zunächst einem ins Parterre eingebautem Provisorium. Als neun Jahre darauf dessen Erweiterung dem Publikum übergeben wurde, war auch der elfjährige Robert Schumann anwesend, sein Elternhaus lag nahebei. Immerhin ging damals außer der einen oder anderen französische opéra comique wie Boieldieus „Der Kalif von Bagdad“ selbst Webers „Freischütz“ über die Bühne. Ein Repertoire, das sich mit der Eröffnung eines auf Dauer abgesehenen, nun den gesamten Baukörper beanspruchenden Theaters im Sommer 1855 zunächst nicht änderte. Einweihen ließ der Impesario und Pächter Hermann Meinhardt das Haus durch seine Truppe mit Boieldieus damals überaus populären „Weiße Dame“. Noch in den 1890er Jahren fasste das Parkett 500 Sitzplätze mit der hohen Zahl von jeweils 150 Stehplätzen zu dessen Seiten. Auf der umlaufenden Galerie fanden weitere 300 Besucher Platz, so dass sich im Zuschauersaal bei ausverkauftem Haus 1100 Zuschauer drängten.
Selbstbewusst-realistisches Bürgertum
Die Umnutzung von den Verkaufshallen und Versammlungsstätten wohlhabender Zünfte zum Kulturbau spricht zugleich vom Realismus und Bürgerstolz der Zwickauer. Realismus, weil sich ein kompletter Neubau nicht finanzieren ließ. Dennoch dokumentiert der Funktionswandel des Hauses bürgerliches Selbstbewusstsein: Das Gewandhaus war als Symbol des längst überständigen Zunftzwangs zu begreifen. Zwar fiel dieser – im Gegensatz zu Preußen und anderen deutschen Staaten – im Königreich Sachsen erst 1861. Doch löste auch hier sich die Bürgerschaft fortschreitend aus unzeitgemäßen Handwerks- und Gewerbesbanden. Nicht länger bedurfte sie korporativer Gebäude wieder Zunfhäuser. Die Umnutzung zum Theater schuf einen Ort zivilgesellschaftlicher Geselligkeit und Freiheit.
Das Innere des Zwickauer Theaters sollte in seiner Baugestalt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts den zweiten Weltkrieg überdauern. 1954 wurde das Bühnenhaus abgerissen und neu errichtet, im gleichen Zug der Bau unter äußerlicher Forführung der historischen Längsfassaden um 13 Meter gestreckt. Mitte der sechziger Jahre kam ein Funktionsgebäude im Stil der Zeit hinzu. Ein Jahrzehnt darauf zeigen sich zwei bogenförmige offene Ränge in den Zuschauerraum eingezogen.
Grundlegend neu entworfen gab sich das Interieur 1997. Der Zuschauerraum glich nun einer spartanischen black box. Zwischen 2016 und 2020 erfolgte eine Grundsanierung, doch konnte covidbedingt der Spielbetrieb erst 2021 wieder aufgenommen werden. Seither präsentiert sich das Auditorium bei aller räumlichen Beschränkung mit gewisser Großzügigkeit. Dies unter effektvoller Umwandlung der historischen Fensterarkaturen zu Seiten des Parketts in Blendbogenstellungen samt darüber installierten wie an die einstige Besuchergalerie aus der Mitte des 19. Jahrhunderts erinnernden Beleuchtergängen. Der Zuschauerraum zählt nun in Parkett und auf dem Rang 353 Plätze.
Sächsisches Alleinstellungsmerkmal
Die Umwandlung der überaus geräumigen und die Prosperität der Zünfte einst glanzvoll zur Schau stellenden Gewandhäuser zu Kulturbauten ist eine sächsische Besonderheit. Prominentestes Beispiel ist Leipzig, wo sich im dortigen Gewandhaus 1781 Konzertsaal und nach der Örtlichkeit benanntes Orchester etablierten. 1884 wurden der Name von Gebäude und Klangkörper auf ein eigens errichtetes Konzertgebäude übertragen. Zweihundert Jahre nach Gründung des Orchesters dann wurde die heutige Philharmonie am Ausgustusplatz ihrer Bestimmung übergeben.
Die Bauaufgabe Theater hatte sich zuvor bereits teilweise mit dem spätbarocken Dresdner Gewandhaus aus dem Jahr 1770 verbunden. Es ersetzte einen Vorgänger vom Ende des 16. Jahrhunderts. Außer den Verkaufsräumen des Tuchgewerbes und der Fleischer fand sich von Anbeginn im Neubau ein Theatersaal installiert. Im 19. Jahrhundert nutzte die Dresdner Hofkapelle den großen Saal im zweiten Stock für ihre „Musikalischen Akademien“. 1945 brannte das inzwischen anderen und wechselnden Funktionen zugeführte Gebäude beim Bombenangriff auf Dresden aus. Nach dem Krieg wurde die Fassade wiederhergestellt, das Innere aber für ein 1967 eröffnetes Hotel völlig entkernt und neugestaltet. Bis heute behält das Dresdner Gewandhaus seine Funktion als Hotel bei.
Die Beispiele Leipzig und Dresden legen nahe, die Idee, Gewandhäuser der Funktion als Konzerthaus zuzuführen oder gar partiell von vornherein als Theater zu planen, in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zu datieren. Das Zwickauer Gewandhaus erlebte vor seiner dezidierten Umwidmung Gastspiele von Wanderbühnen. Dies gewiss bereits im ausgehenden 17. Jahrhundert. Und es lässt sich vermuten, dass auch das spätbarocke Dresdner Gewandhaus nur einer Funktion schon des Vorgängerbaus nachkam.
Mit dem 1825 erbauten Gewandhaus in Löbau erschien ein Nachzügler auf dem Plan. Anlass zu dessen Errichtung bot die florierende Textilindusrtrie der Stadt in der Oberlausitz. Das Löbauer Gewandhaus ist ein schmuckloser klassizistischer Block von freilich guten Proportionen. Alsbald und bis 1866 übernahm er die Funktion des städtischen Theaters, später diente er unter anderem als Kino und der Verwaltung. Heute steht er leer.
Stelldichein der Architekturepochen
Das Meißener Gewandhaus ist ein Renaissancebau aus der Mitte des 16. Jahrhunderts. Der Funktionswandel kündigt sich um 1760 durch die Errichtung eines – wenn auch transportablen – Theaterpodiums an, mithin erneut in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Doch traten auch in Meißen wohl schon lange zuvor Wandertruppen auf. Seit dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts durfte das in seinem Innereren nun dazu baulich ertüchtigte Meißener Gewandhaus als Theater der Stadt gelten. Gastierende Truppen brachten die Repertoireschlager Ernst v. Raupachs, August v. Kotzebues und Charlotte Birch-Pfeiffers auf die Bretter. Wie in Zwickau und an vielen anderen Orten erwiesen sich Boieldieus Spielopern und die Werke Webers als Kassenmagneten. Im Graben saßen die vereinigten Musiker der Stadtkapelle und des Orchesters der Porzellanmanufaktur, bis 1840 das Städtische Orchester Meißen gegründet wurde.
1851 wurden Zuschauerraum und Foyers von einigem baukünstlerischem Anspruch dem Publikum übergeben. Ein Werk des vor allem publizistisch hervorgetretenen Berliner Architekten Johann Andreas Romberg, übrigens ein erklärter Feind der Gewerbefreiheit und damit jener Tendenz, die zur Überflüssigkeit der Gewandhäuser als Zunftbauten wesentlich beitrug. Romberg schuf ein schmuckes Interieur für 704 Besucher, davon 300 auf Stehplätzen. Die Mittelloge mit ihren zahlreichen Sitzen glich eher einem Hochparkett, hinter dem ersten Rang baute sich eine Galerie auf. Das Deckengemälde schuf der in Dresden geborene und italienerfahrene Carl Merkel. Genau ein Jahrhundert darauf erfolgte die Umgestaltung von Auditorium und Foyer durch den Meißener Stadtbaumeister Georg Wolf. Parkett und Rang gaben sich ebenso schlicht wie feierlich. Auch schaltete Wolf der Renaissancefassade eine Eingangsfront ais dem Geist der Nachkriegszeit vor. Bis dahin war das Meißener Theater expandiert. In den 20er Jahren war die Operette eingeführt worden, in der zweiten Hälfte der 40er die Oper. Doch fielen 1963 die hauseigenen Ensembles der dritten Schließungswelle der DDR-Theater zum Opfer. Seither wird es unter anderem von der Landesbühne Sachsen in Radebeul bespielt.
Die 2022 erfolgte Sanierung führt das Wolfsche Erscheinungsbild behutsam an die Gegenwart heran. Gegenwärtig bietet das offene Rangtheater 440 Plätze.
Beständigkeit im Wandel
Gewandhäuser, einst waren sie Sinnbilder kommunalen Handwerks- und Gewerbefleißes. Dort, wo man sie zu Kulturbauten umwidmete, ging die Zeit nicht über sie hinweg. Sie blieben Kundgabe des Bürgerstolzes. Getrost darf Sachsen mit diesem Pfund wuchern. Statt abgerissen zu werden oder in Musealität zu erstarren, lebt Architektur in evolutivem Wandel fort. Einst stand dabei die Denkmalpflege hintenan, die zivilgesellschaftliche Übereinkunft im Vordergrund. Heute zeigt alllererst das Zwickauer Gewandhaus beide in Einklang. Daraus gilt Mut für den beherzten Umgang und die entschiedene Neubestimmung historischer Bausubstanz zu schöpfen.
Dank an Hotel Gewandhaus Dresden, Theater Meißen, Theater Plauen-Zwickau.