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Überempfindlichkeit lähmt Staat und Schöpferkraft
Kunst und Leben, beider Verhältnis ist so eine Sache. Vor einem Jahr veröffentlichte ich an dieser Stelle einen Kommentar, in dem ich mein Befremden über eine Regisseurin äußerte, die Abstand davon nahm, Lachtheater in Szene zu setzen. Immer finde sich jemand, so stellte sie fest, die oder der Anstößiges entdecke und sich darob echauffiere. Ich nannte solche Selbstzensur künstlerische Kapitulation. Und halte an meiner Position fest. Doch inzwischen überlege ich, ob ich mich – und weite Teile der Mitgeborenen – ins Verdikt einbeziehen muss. Vorsätzlich oder unwillkürlich, die Künste sind Seismographen dessen, was in einer Gesellschaft vorgeht. Die unsere wurde empfindlich. Überempfindlich. Wenn Politikerinnen und Politiker sich vor dem auf sie niederprasselnden Spott und Hohn unter den Schirm des Strafrechts flüchten, so zeigt sich darin eine Tendenz, der wir womöglich selbst zu erliegen drohen.
Wir sollten in uns gehen. Bequem lässt sich auf den dünnhäutigen Wirtschaftsminister im letzten Bundeskabinett zeigen, der schon beim Anwurf, ein „Schwachkopf“ zu sein, die Staatsanwaltschaft in Gang gesetzt sehen durfte. Leichtfertig zudem auf den gegenwärtigen Bundeskanzler und die zugleich Bundessprecherin und Fraktionsvorsitzende der prozenthaltigsten Oppositionspartei. Doch was wäre mit uns? Jedenfalls in der Funktion von Amts- und Mandatstragenden. Ich fürchte, kaum anderes. Zumal im Jahr 2021 mit Paragraph 188 des Strafgesetzbuches ein analog zur Majestätsbeleidigung die Strafverfolgung deutlich erleichternder Tatbestand geschaffen wurde. Erteilt wurde ein Privileg, mochte immer die Strafandrohung bei Delikten wie Beleidigung, übler Nachrede, Verleumdung oder gar Volksverhetzung längst Hebel bieten, um Ehrabschneidern und Ehrabschneiderinnen zu wehren.
Streit ist in freiheitlichen Staatswesen elementar
Demokratie und Künste leben vom Diskurs. Dünnhäutigkeit und Hypersensibilität taugen für zarten Austausch in abgeschotteten Räumen, nicht für Debatten. Überdies lädt Paragraph 188 des Strafgesetzbuchs zum Missbrauch durch sich selbst wenig zartfühlend, apodiktisch und lautstark ins Getümmel werfende Mandatsträger und Mandatsträgerinnen ein. Solche, die im Fall der Entgegnung durch starken Bescheid dessen strafrechtliche Ahndung erheischen. Das Sprichwort sagt: „Wer austeilt, muss einstecken können.“ Unmöglich, manche Kontroverse anders zu verhandeln. Ich bin überzeugt, selbst heftigster Streit stimmt mit dem Habermasschen Begriff der „kommunikativen Vernunft“ überein. Sofern die Gegner um Lösung ringen.
Das gilt noch für Invektiven. Mein Favoritbeispiel entnehme ich der Geschichte. Als Elisabeth I. von England ein Schiff ihrer Flotte inspizierte, schlugen ihr von Rahen und aus Wanten die „Whore“-Rufe der Matrosen entgegen. Ich strapaziere die Einbildungskraft wohl kaum unziemlich, wenn ich das lauthalses Gröhlen und Gelächter der Seeleute mutmaße. Die Königin ertrug den Spott, ohne dass Wimper oder Mundwinkel zuckten. Elisabeth I. wusste, die so rüde mit ihr umspringende Mannschaft würde in den bevorstehenden Seegefechten mit den Spaniern ihr Leben für sie riskieren.
Dünnhäutigkeit und Klassenkampf
Niemand misst die gegenwärtige Bundesministerin für Arbeit und Soziales am geschichtlichen Rang einer britischen Queen von welthistorischem Format. Und gewiss würde das Publikum auf dem Arbeitgebertag von Ende November eher nicht sein Leben für das Land wagen. Doch unbeschadet dessen und gleichgültig, ob die Ausführungen der Bundesministerin für Arbeit und Soziales fachlich stichhaltig waren oder nicht, darob zu lachen darf keiner und keinem verwehrt werden. Die Ministerin betrug sich bar jeden Gespürs für die Lage und Scharfsinns. Statt das Gelächter schlagfertig und sachkompetent zu parieren, missriet sie zur personifizierten Eingeschnapptheit. Unter wohlfeilen Umständen folgte wenige Tage später die Retourkutsche auf dem Bundeskongress ihrer Parteijugend. Die Mücke zum Elefanten promovierend, rief die Ministerin in maßloser Überschätzung des Vorkommnisses auf dem Arbeitgebertag und ihrer eigenen Person den Klassenkampf aus. Ginge es nach ihr – steht zu vermuten – , sowie dem Bundeskanzler und der Chefin der abgeordnetenstärksten Oppositionspartei im Bund hätten des Landes Bürgerinnen und Bürger nichts zu lachen. Nichts mindestens über Mandatstragende.
Maulkorb für den Souverän
Paragraph 188 des Strafgesetzbuches soll Ruhe als erste Bürgerinnen- und Bürgerpflicht einschärfen. Unerachtet des offenbar zu vernachlässigenden Umstands, dass sich in Demokratien der Souverän aus dem Wahlvolk selbst formiert. Was indessen bei etlichen Mitgliedern der Parlamente und bei einigen Strafverfolgenden nicht einmal ein Schulterzucken hervorruft.
Dringend erforderte Selbstbefragung
Bevor der Eindruck bloßer Schelte der Funktionsträger im Staatsapparat sich durchsetzen kann, erinnere ich an jene vor der Empörungsbereitschaft des Publikums die Segel streichende Spielleiterin. Nicht Politikerinnen und Politiker setzten ihr zu, vielmehr gewöhnliche Theaterbesuchende. Welcher Bannstrahl erst hätte die Regisseurin getroffen, würden sich diese Aufgeregt-Überempfindlichen vom Paragraphen 188 des Strafgesetzbuches privilegiert gewusst haben! Kunst wittert, was in der Gesellschaft jetzt und künftig vorgeht. Um es in Form zu bringen. Bitterböse Komödien eingeschlossen. Reinigende Gewitter. Volksvertreterinnen und Volksvertreter verkörpern ihre Wählerschaft. Auf’s Ganze gesehen als deren genaues Abbild. In ihnen erblicken wir uns selbst. Eine überempfindliche Gesellschaft gleicht einer verrohten in einem einzigen Punkt, dem entscheidenden: ihrem letztlichen Scheitern.
Michael Kaminski
Dieser Beitrag erscheint in Kooperation mit dem Medienpartner www.stageticker.de.




