Schwarzer Stoff als rotes Tuch
Gegen die Trauerbeflaggung von Bühnenbildern
Während meines Studiums saß ich in der Frankfurter Oper
neben dem Intendanten eines mittleren deutschen Hauses. Meine Mutter und dessen
Frau empfanden gegeneinander herzliche Abneigung. Da er aber allein gekommen
war, ließ sich des gemeinsamen Bekanntenkreises und der zivilen Umgangsformen
halber eine kleine Unterhaltung nicht vermeiden. Sie verlief angenehmer als
erwartet. Wie regte sich aber der Mann auf, als der rote Hauptvorhang ein wenig
durchhing und die Versuche der Straffung dazu führten, dass der Lappen sich um
einige Zentimeter hob und darunter einen schmalen Lichtstreifen freigab. Der
eben noch zivil konversierende Theaterleiter geriet schier aus der Fassung. Mir
schien die Sache eine Kleinigkeit. Nicht der Rede wert und der Intendant eine
hypersensible Künstlernatur. Hätte ich mich damals nur an die eigene Nase
gefasst, würde ich bemerkt haben, dass es um mich, was vergleichbare
Empfindlichkeiten anlangt, keinesfalls besser bestellt war. Und ist.
Vor einigen Tagen erfuhr ich das aufs neue. In Florenz. Seit
2014 besitzt die toskanische Metropole ein am Rand der Altstadt errichtetes
neues Opernhaus, dessen architektonische Verdienst sich mit dem der ikonisch
gewordenen Renaissancebaukunst der Stadt messen darf. Der 1800 Besucher
fassende Saal deutet das klassische Hufeisen seines Grundrisses durch die kühne
Kurvatur des beinahe direkt vom Parkett wie schwerelos aufsteigenden Ranges
völlig neu. Die Sessel sind bequem wie sonst kaum irgendwo auf der Welt. Das
Portal ist breit, die Bühne weiträumig. Die jüngste Produktion von Franco
Alfanos veristischer Oper >Risurrezione< nach Tolstojs
>Auferstehung< wirkte darauf arg verloren. Die schwarzen Vorhänge, mit
denen die Szene seitlich abgehängt war, erdrückten das Bühnenbild ebenso, wie
ein allzu mächtiger Goldrahmen die fragilen Gestalten eines zartfarbenen
Gemäldes optisch zerquetschen würde. Diese Schals oder Schenkel genannten
Stoffbahnen, die von den Theaterfotografen selbstredend nicht ins Visier
genommen werden, stören mich seit früher Jugend.
Mag sein, damals beklagte ich den Eingriff in die
Bühnenillusion, der mich daran erinnerte, dass der Zauberwald eben kein
tatsächlicher war. Im Verein damit beschworen die schwarzen Schals zusätzlich
den Eindruck von Sparmaßnahmen herauf, denen die Seitenwände für den Thronsaal
des Königspalastes zum Opfer gefallen waren. Später wandelte sich der Grund für
meine Abneigung. Längst ließ mich der Illusionismus kalt. Zum Beweis dient mir
Verdis >Macbeth< in der unvergesslichen Regie von Ian Judge bei den
Wiesbadener Maifestspielen mit der für die Lady wie geschaffenen von der Queen
zur >Dame< geadelten Josephine Barstow. Das die Schauplätze mit nur
wenigen Versatzstücken andeutende Bühnenbild ermöglichte faszinierende Blicke
in den Bühnenturm mit seinen Galerien und der Obermaschinerie, auf deren scheinwerferbestückten
zuweilen bis knapp über den Bühnenboden herabgefahrenen Zugstangen das optische
Hauptaugenmerk lag. Wer es geschaffen
hat, daran erinnere ich mich nicht mehr und nachzuschlagen fiele schwer, da das
Programmheft verloren ging.
Seither jedenfalls blicke ich, falls die Produktion damit
überzeugt, unirritiert selbst auf die
kahlen Brandmauern des Bühnenturms. Fortgesetzt aber stoße ich mich an
schwarzen Seitenschals als immerdar überflüssiger Zutat. Dass mir die
Trauerbeflaggung Ende des vergangenen Jahres in der Scala bei der
>Ägyptischen Helena< und zusätzlich zu Beginn dieses Jahres im
Florentiner Teatro del Maggio Musicale vor Augen kam, verdross mich durchaus. Sprengt
die Opernhäuser nicht in die Luft, aber reißt endlich diese schwarzen Fetzen
herunter!