Verschollene Stücke (Sprechtheater Folge 1)

Henry Bowers (1883–1912) / Public domain

Reinhard Goering: Die Südpolarexpedition des Kapitäns Scott

Nicht der Gewinner des Wettrennens zum Südpol, sondern
dessen Verlierer avanciert in Reinhard Goerings Tragödie zur Titelfigur. Robert
Falcon Scott kam erst 35 Tage, nachdem Roald Amundsen am 14.12.1911 dort
angelangt war, ins Ziel. Scott starb auf dem Rückweg vom Pol am 29.03.1912.  Sein  Weg in den Tod rückt ins Zentrum des Stücks.

Reinhard Goering zählt zu den bedeutendsten Dramatikern des
Expressionismus während des ersten Weltkriegs und der unmittelbaren
Nachkriegszeit.  Des Autors Erstling  für das Theater – >Seeschlacht< – gellt
die Nöte der auf einem Kriegsschiff unentrinnbar eingepferchten Matrosen, ihr
Entsetzen und die Todesangst existentiell packend heraus wie in der bildenden
Kunst Edvard Munchs >Schrei<. Die Uraufführung am Dresdner Königlichen
Schauspiel im Februar 1918 führte zum Eklat. Kurz darauf verhalf Max Reinhardts
Regie dem Stück in Berlin zu einem Sensationserfolg. Bis 1919 schob Goering
vier weitere Dramen nach, später führte der Autor ein unstetes Wanderleben mit
einigen Versuchen, sich als Arzt, der er von Haus aus war, niederzulassen.
Inspiriert von seiner finnischen Gefährtin Dagmar Öhrbom und den gemeinsamen
Frankreichaufenthalt, begann der bis auf völlige Nebenarbeiten verstummte Autor
ab 1926 wieder zu schreiben. >Die Südpolarexpedition des Kapitäns Scott<
entstand 1928 nach der Lektüre von Scotts Tagebüchern. Auch Amundsens Tod im
Juni 1928 mochte von Bedeutung sein. Kein Geringerer als Leopold Jessner
inszenierte die Berliner Uraufführung am 16. Februar 1930. Noch im selben Jahr
erhielt Goering für sein Stück den Kleist-Preis. Es ist des Autors letztes Werk
für das Sprechtheater.

>Die Südpolarexpedition des Kapitäns Scott<
vergegenwärtigt in den ersten beiden Teilen zunächst die trügerische Hoffnung
des britischen Entdeckers, den Pol als erster zu erreichen, später  – und weitaus bedeutenderen Raum einnehmend –
Scotts Scheitern und sein Ringen um Größe noch in der Niederlage. So lässt der
selbst Entkräftete den an beiden Füßen erfrorenen Lawrence Oates nicht zurück,
auch wenn die Kameradschaft für ihn und die Gefährten den sicheren Tod im
ewigen Eis bedeutet. Schlaglichtartig scharf umreißt Goering den Konkurrenten
der Titelfigur. Roald Amundsen kommt bei seinem ersten, recht kurzen, Auftritt
strahlend selbstbewusst und keinerlei Hindernis achtend daher. Der Sieg gibt
sich für Goering eindimensional, die Niederlage hingegen zeigt zahlreiche
Facetten. Der dritte und letzte Teil des Stücks lässt Scotts Ehefrau mit ihrem
kleinen Sohn vergeblich auf des Entdeckers Rückkehr in den Hafen der
tasmanischen Hauptstadt Hobart warten. Statt der britischen hisst das nahende
Schiff die Flagge Norwegens. Unter dem Jubel der Menge steigt Amundsen an Land.

Völlig unabhängig vom Brechtschen Begriff episiert Goering
sein Stück aus eigenem Recht. Kräftig wirkt dennoch die attische Tragödie
hinein. Die umfangreiche Chorpartie umfasst wechselnde Funktionen als Erzähler,
Kommentator und jubelnde Masse. Am stärksten überzeugt  die kollektive Teichoskopie, die neusachliche
Beobachterperspektive, aus der die Chronologie von Scotts Südpolarexpedition
ebenso lapidar und präzise wie poetisch geschildert wird.  Doch haftet den Chorkommentaren und
befremdlicher noch dem Schlussjubel, der Amundsen im Hafen von Hobart empfängt,
nicht anders als der Sprache der Einzelfiguren oft ein wie aus den
Übertragungen griechischer Tragödien ins Deutsche geborgtes Pathos an. Goerings
Idiom leitet sich zudem von George und Hamsun her. Anleihen beim Film – so die
kurze Rückblende  von der Südpolarregion
nach London oder die Einspielung von Zuschauerkommentaren – dringen in ihrer
Vereinzelung nicht in die dramaturgische Tiefenstruktur ein. Zusammen hält die
disparaten Elemente des Stücks des Autors ausgeprägter Sinn für Rhythmus in den
freien, oft beinahe mimetischen Versen und selbst in  mitunter eingeschobenen Prosapassagen.

Goering entwirft Scott und Amundsen als geistes- und
kulturgeschichtliche Gegenbilder. Triumphalistisch, leutselig und mit einem
gewissen Anflug virilen Humors verkörpert sich in Amundsen der Übermensch
Nietzsches. Hingegen begegnet in Scott und dessen Scheitern der Held der
griechischen Tragödie, es hängt für ihn sogar etwas von hamartia, dem nicht
zwingend schuldhaften Fehler des antiken Trauerspiels, in der Luft:

„WILSON: Es muß ein Ausnahmejahr sein. Nie, seit man
Beobachtungen hier angestellt hat, gab es  
solches Wetter und solchen Schnee.

SCOTT: Das brächte einen beinahe dahin, an eine Schuld zu
glauben, von welcher keiner weiß.“

Auf dass Amundsen nicht gänzlich makellos davon komme,
verleitet ihn der finale Siegeszug durch den Hafen von Hobart zur Hybris, indem
er der Menge verkündet:

„Mein Richter ist die Welt. / Nicht mehr ein
einzelner.“

Stracks tritt darauf dem Triumphator ein todverkündender
Astrologe entgegen. Dass hier Goering den Seher der griechischen Tragödie auf
der Schwundstufe eines zeitgenössischen Horoskopstellers bemüht, mag zunächst
skurril scheinen, wird aber plausibler durch die mediale Präsenz von Figuren
wie Jan Hanussen in der Spätphase der Weimarer Republik. Der historische
Amundsen erlag freilich nicht seiner Hybris, sondern starb bei der
Rettungsaktion für einen forschungsreisenden Kollegen.

Bedenklicher noch als die Wahrsagerei stimmt die das Stück
durchziehende Evokation des >Schicksals< bis in die vom Chor deklamierten
Schlussverse:

„Wehe dem, der kein Schicksal hat! Wehe dem Wahn, der
sich eins machen will!“

Schicksal gilt Goering gewiss nicht als >Ananke<
(Verhängnis), sondern Auszeichnung für seine Helden, die sie von gewöhnlichen
Menschen abhebt. Wie so viele seiner Zeitgenossen sucht Goering nach einer
Führerfigur, als deren möglichen Typus er den tragischen Helden und Nietzsches
Übermenschen auf die Bühne stellt. Fraglos neigt der Autor dabei Scott zu, die
historischen Tatsachen akzeptierend spricht sich Goering indessen final eher
widerwillig für Amundsen aus.

Der >Übermensch< Amundsen ähnelt gleichwohl einem
Hitler in keiner Weise. Dem widerspricht bereits der erklärt eirenische Aspekt
des Stücks. Mögen immer in Scott und Amundsen 
Exponenten ihrer Heimatländer und Nationalisten bis ins Mark begegnen,
sie messen sich in friedlichem Wettbewerb. Goering lässt sich den von ihm
unbezweifelten agonalen Drang der Völker statt im Krieg im Ringen um
entdeckerisches Prestige entladen. Freilich geht der friedliche Konkurrenzkampf
der Abenteurer und Rivalen nicht risikolos für Leib und Leben über die Bühne
wie etwa Olympische Spiele. Zwar bekämpfen sich Scott und Amundsen nicht
physisch, im Ringen um den Ruhm ihrer Nationen nehmen sie aber den Tod in der
mörderischen Eiswüste billigend in Kauf. Beider Einsatz ist nicht weniger
riskant als der im Krieg.

Zwei Jahre nach Uraufführung der >Südpolarexpedition<
geriet Goering auf den Irrweg. Zwischen 1932 und dem Folgejahr gehörte der
Autor kurzfristig der NSDAP an. Ob er alsbald wieder austrat oder ausgeschlossen
wurde, ist nicht zu ermitteln. Seelisch ebenso unbehaust wie auch unstet
hinsichtlich seiner Wohnsitze, setzte der in jeder Hinsicht erschöpfte Autor
seinem Leben wahrscheinlich im Oktober 1936 in der Nähe von Jena ein Ende. Erst
im November wurde Reinhard Goerings Leiche entdeckt.

Zuletzt hatte er die Umarbeitung der
>Südpolarexpedition< zum Text für  Winfried
Zilligs Oper >Das Opfer< abgeschlossen, die 1937 in Hamburg uraufgeführt
wurde. Die einprägsame Rhythmik von Goerings freien Versen lud zur Komposition
geradezu ein. Der positiven Sicht auf Scott und England wegen kam das Werk bei
der gleichgeschalteten Presse nicht gut weg. Was aber dem Schönbergschüler
Zillig, der auch unter der Gewaltherrschaft fortfuhr, Zwölftonmusik zu komponieren,
letztlich nicht schadete. Denn Zillig bediente mit dem Soundtrack zu allerlei Filmschmonzetten
die nationalsozialistische Unterhaltungsindustrie versiert und willig. Dass
sich Reinhard Goering final mit einem Tonsetzer abgab, dessen
musiktheatralische Kunstübung den Gewalthabern liberalen Tarnanstrich verlieh, ließ
den Autor künstlerisch im Zwielicht enden.

Grab Scotts und seiner Gefährten

Die Lektüre der >Südpolarexpedition des Kapitäns Scott<
ist keine Zeitverschwendung. Eine Aufführung hängt davon ab, ob gelingt, das
Pathos zugleich ernst zu nehmen und herabzustimmen.

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