Vierte Anmerkung zu Goethe
Von Diogo P. Duarte - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0
Wenn Klassik zum Teufel geht
Im Januar 1802 korrespondiert der in Jena weilende Goethe mit Schiller in Weimar unter anderem über eine Bühnenfassung der >Iphigenie<, die dann am 15. Mai des Jahres im Weimarer Hoftheater zur Aufführung gelangt. Goethes Brief enthält die prominente, immer wieder zitierte, Einschätzung seines Dramas als „ganz verteufelt human“. Die Stelle aus Goethes Brief vom 19. Januar 1802 verdient in ihrem Kontext angeführt zu werden: „Hiebei kommt die Abschrift des gräcisierenden Schauspiels. Ich bin neugierig was Sie ihm abgewinnen werden. Ich habe hie und da hineingesehen; es ist ganz verteufelt human. Geht es halbwegs, so wollen wir’s versuchen, denn wir haben doch schon öfters gesehen, daß die Wirkungen eines solchen Wagestücks für uns und das Ganze incalculabel sind.“ Schiller beschwichtigt, schon am Folgetag antwortet er: „Das, was Sie das Humane darin nennen, wird diese Probe [auf dem Theater M.K.] besonders gut aushalten und davon rathe ich nichts wegzunehmen.“ Goethes Befürchtung, das Publikum werde Anstoß an der >Humanität< des Stücks nehmen, mag sich erklären: Der Dichter wähnte durch die Verwerfungen der Französischen Revolution – für ihn das Antihumanum schlechthin – den Zeitgeist über seine >Iphigenie< hinweggegangen. Schiller hingegen, der die Revolution erst ablehnte, seit der sechzehnte Ludwig das Schafott bestiegen hatte, und mindestens die Ideale der Freiheit und Brüderlichkeit weiterhin hochhielt, unterstrich gerade des Dramas >Humanität<.
Denkbar aber auch, Goethe war sich aus rein dramaturgischen Erwägungen der Bühnenunwirksamkeit allzu betonter Humanität bewusst. Als mahnendes Beispiel mochte ihm Mozarts 1791 uraufgeführte >La clemenza di Tito< vor Augen stehen. In des Komponisten letzter Oper vergibt der römische Kaiser Titus seinen Widersachern inflationär und beraubt so – trotz einer Musik, die Mozart auf voller Höhe bezeugt – die Handlung eines Gutteils an Spannung.
Indessen erwies sich nicht allein >Iphigenie<, sondern die Weimarer Klassik überhaupt als „verteufelt human“. Goethes Oxymoron ließ sich unter dem Regime der Braunen Bande dazu manipulieren, Menschlichkeit einer vermeintlichen Herrenrasse vorzubehalten. Die durch eben dieses von ihr usurpierte Privileg verteufelt.
Das Ergebnis ist auf dem Ettersberg über Weimar zu besichtigen, das KZ Buchenwald. Eher marginal wirkt noch, dass dessen Häftlinge die nach hier ausgelagerten Möbel aus dem Schillerhaus nachbauen mussten, um die Repliken als Ersatz für die im KZ deponierten Originale ins von Bombenangriffen bedrohte Weimar zu schaffen. Satanisch hingegen die Entscheidung der SS, bei der Rodung des Geländes für den Bau des Konzentrationslagers jenen Baum zu verschonen, unter dem Goethe – gelegentlich in Begleitung Charlottes von Stein – bei seinen Ausflügen auf den Ettersberg gerastet haben soll, die >Goethe-Eiche<.
Unweigerlich kommen die beiden ersten Verse Iphigenies in den Sinn:
„Heraus in eure Schatten, rege Wipfel
Des alten, heil’gen, dichtbelaubten Haines,
…“
Die >Goethe-Eiche< erhob sich vor dem Küchengebäude, in Sichtweite von Erschießungsanlage und Krematorium. In Sichtweite auch des Baumpfahls, an dem die Häftlinge abgestraft wurden. Dieses >Baumhängen< war teuflische Tortur. Die Hände auf dem Rücken gefesselt, die Arme nach hinten gezurrt, zerrten SS-Folterknechte die Opfer am Schandpfahl hoch. Stundenlang hingen die Menschen daran. Nachdem sie vom Marterbaum abgeschnitten waren, erhielten sie Fußtritte oder Knüppelschläge, ehe sie in ihre Baracke zurückwanken durften. Manche überlebten das >Baumhängen< nicht, die Lungen waren ihnen geplatzt.
Die >Goethe-Eiche< wurde bei einem amerikanischen Bombenangriff schwer getroffen und danach gefällt. Obwohl es Tote unter den Häftlingen gab, begriffen ihre Leidensgenossen den Angriff der Amerikaner, der den dem KZ angegliederten Rüstungsbetrieben gegolten hatte, als Symbol. Lange schon ging unter den Insassen die Sage, das Ende des Baumes werde mit dem der Nazigangster zusammenfallen.
Bildungssentimentalität und Grausamkeit des Naziregimes standen nicht allein in Buchenwald in teuflischem Bund, auf dem Ettersberg aber trifft sie jeden, der dem Humanitätspostulat der Weimarer Klassik etwas abzugewinnen sinnt, ins Mark.
Deshalb sei der Vorschlag einer >Iphigenie<-Aufführung vor dem Hängepfahl neben Erschießungsanlage und Krematorium gewagt.
Künstler und Publikum sollten sich dem aussetzen, um sich zu sagen, was Iphigenie vom Land der Taurer bekundet:
„Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.“
Niemals.