
Hermann. Ein Lesespektakel von Victor Stein
Seit 1875 reckt die Kolossalstatue ihr Schwert gen Feind. Anlass genug, sich des Mannes zu erinnern, der dem Teutoburger Wald das Monument verpasste: Ernst von Bandel. Und Gelegenheit, den Römerbezwinger selbst aus dem germanischen Urwald zu locken. Wo auch sein Gegenspieler Varus keine Ruhe findet. Bandel gerät mit dem Schöpfer der New Yorker Freiheitsstatue, Auguste Bartholdi, aneinander. Karl Marx besucht – historisch verbürgt – beide Bildhauer im Atelier. Und setzt sie unter dialektische Hochspannung.
Victor Stein „löckt“ mit seinem Lesespektakel tüchtig „wider den Stachel“ jedweder Ideologie. Sprachlicher Funkenflug erhöht die Waldbrandgefahr im Dickicht der Machtpolitik. Thusnelda lacht sich ins Fäustchen.
Victor Stein
HERMANN
Ein Lesespektakel
Personen
Hermann, spät und beiläufig auch Siegfried
Thusnelda
Segestes
Varus
Ernst v. Bandel
Auguste Bartholdi
Karl Marx, irgendwann und nebenher auch Hagen
König Gunther
Das Riesenweib
1
(Bandels Atelier in Hannover. Der fertige Kopf des Hermannsdenkmals. Werkstücke von Rumpf und Extremitäten.)
HERMANN: Der Helm ist ein Witz. Albern. Peinlich. Thusnelda hätte sich vor Lachen gebogen.
BANDEL: Die Schwingen zeigen, wie hoch, Fürst, Ihr Geist, Ihr Gemüt, Ihre Tapferkeit auffliegen. Wie sehr Hermann den Feind überflügelt.
HERMANN: Schwingen an einem römischen Offiziershelm.
BANDEL: Nicht so recht römisch. Der Germane nimmt sich von Rom, was er braucht. Er fügt es dem Eigenen hinzu.
HERMANN: Offen gestanden benötigten wir viel. Fließendes Wasser.
BANDEL: Das Rauschen der Bäche.
HERMANN: Ich meine Wasserleitungen.
BANDEL: Zivilisation. Pah.
HERMANN: Fußbodenheizungen.
BANDEL: Nur am offenen Feuer erzählen sich Heldenlieder wie die von Hermann dem Cherusker.
HERMANN: Sie sind ein Freund des Urtümlichen. Ich bin es nicht.
BANDEL: Worin Sie Rom gewiss nicht nachahmen mussten, war Heldenmut. Den besitzen Sie selbst.
HERMANN: Heldenmut taugt zu nichts, wenn Scharfsinn und List fehlen.
BANDEL: Beide warf Hermann in die Waagschale, als er drei Legionen in die tödliche Falle lockte. Nicht zu unterscheiden, was ihm höheren Ruhm schuf, seine Tapferkeit oder seine Klugheit.
HERMANN: Reißen Sie die Flügel vom Helm.
BANDEL: Fürst, bitte bedenken Sie, es würde den kompositionellen Zusammenhang gefährden. Die Proportionen.
HERMANN: Das sagten die Bildhauer in Rom auch immer, wenn Augustus die Braue lüpfte.
BANDEL: Betrachten Sie Ihr erzenes Antlitz. Den Zug ins Größte. Jede Einzelheit trägt zum Erhabenen des Ganzen bei. Weite und Helligkeit allerorten. Das sonnenhafte Auge. Die Nase, die jeden Dunst durchsticht, um den Feind zu wittern. Der Mund, bereit zu befehlen, anzufeuern, Ihr Volk zu einen.
HERMANN: Diese Mienen unterschlagen Entscheidendes. Die List und Tücke, die es braucht, um einen weit überlegenen Gegner zu vernichten.
BANDEL: List und Tücke sind für die Monumentalplastik keine Kriterien. Der Held ist eindimensional.
HERMANN: Wo ist das Modell des gesamten Denkmals? Lassen Sie sehen.
BANDEL: Es ist zu gering für Ihre Größe.
HERMANN: Oder warten Sie etwa mit weiteren Scheußlichkeiten vom Schlag des Flügelhelms auf?
BANDEL: Könige zollen mir Lob.
HERMANN: Zeigen Sie her. „Non cunctans. Stante pede.“ Das Lateinische ist prägnanter als das Cheruskische, die germanischen Sprachen überhaupt. Germanische Idiome neigen zur Geschwätzigkeit.
BANDEL: (Fährt das Modell des Hermannsdenkmals auf einem Servierwagen herein. Enthüllt es.) Ihre Apotheose, Fürst.
HERMANN: Ein römischer Muskelpanzer. Ein germanisches Langschwert. Meine Apotheose? Ich werde zur Karikatur. Sie verspotten mich! (Geht auf Bandel los.) Du Wicht! Den ich beim Zottelbart packe!
BANDEL: (Kreischt vor Angst.) Wie der listenreiche Odysseus schützte Hermann den Römer vor, um ihn mit germanischem Stahl niederzustrecken.
HERMANN: (Besänftigt. Blickt neuerlich auf das Modell.) Im kurzen Röckchen. Das trug ich nur in Rom. Hier in Germanien ging ich in Hosen. Selbst die römischen Besatzer taten das. Vorwitzig wie sie war, hätte mir sonst Thusnelda unter den Mini geschaut. Jetzt hat sie die Möglichkeit dazu. Ich danke Ihnen.
BANDEL: Bewahre. Der deutsche Recke ist keusch. Ich werde keine unziemlichen Einblicke gestatten.
HERMANN: Sie hätten der Fürstin einen großen Gefallen erwiesen.
BANDEL: Doch würden die vielen Pilger zur nationalen Weihestätte Anstoß daran nehmen.
HERMANN: (Erneut vom Furor gepackt.) Wehe, jemand erklärt für anrüchig, was Thusnelda gefällt.
BANDEL: Bewahre, doch gönne ich der Fürstin Privatissima, die allein ihr vorbehalten sind.
HERMANN: Die Kostümierung insgesamt ist grässlich. Aber mit der Haltung, in der ich auf dem Sockel stehe, kann ich mich anfreunden.
BANDEL: Eben darauf kommt es an, die Haltung. Dafür werden Hermann – wie jeder vaterländisch Gesonnene einst und heute – noch fernste Generationen preisen.
HERMANN: Ich kann damit leben. Varus konnte es nicht.
BANDEL: Der Schändliche.
HERMANN: Eitel bis in die Knochen. Dennoch ein erfahrener Diplomat. Aber kein Feldherr. Kein Mann, um Germanien bis an die Elbe zu erobern. Eine glatte Fehlbesetzung. Wer von uns hoffte, mit den Römern über die Nachbarstämme herzufallen, sie auszurauben, zu plündern, brandzuschatzen, sah sich getäuscht.
BANDEL: Kollaborateure unter Cheruskern? Ein klägliches Häuflein. Rasch auszumerzen.
HERMANN: Pferde und Weiber der Fremdstämme entzückten. Mochten die Römer unsere Nachbarn doch bezwingen. Solange hilfswillige Cherusker anteilige Beute einstrichen.
BANDEL: Ein Fürst, der nahe beim Volk steht, ist stets zu loben. Denn nur solche Herrscher ernten Ruhm, die ihre Untertanen von der geschichtlichen Notdurft überzeugen.
HERMANN: Nennen Sie es, wie Sie möchten.
BANDEL: Der Wetterstrahl aus Ihrem blitzenden Auge drang mitten ins Gemüt der tapferen Recken.
HERMANN: Suff und die Aussicht auf Beute und Sklaven, mehr noch Sklavinnen, bewegte die Cherusker. Sie dachten in kurzen Fristen. Die Männer lebten in den Tag. Ab und zu schlugen sie wen tot. Schwängerten eine Frau. Oder prahlten im Thing. Kein schlechtes Leben. Drei Legionen abzuschlachten, verhieß Waffen aus bestem Stahl, die prall gefüllte römische Kriegskasse, Offiziersluxus aus Gold und Edelsteinen, fügsame Trossweiber. Kurze Anstrengung würde mit langwährendem Faulbett und Lotterleben belohnt.
BANDEL: Doch wandelten Sie der Krieger Gemüt von niedrigen Beweggründen in hohe Gesinnung.
HERMANN: Vor allem zog ich die Leute auf meine Seite.
BANDEL: Sie einten das Volk.
HERMANN: Beinahe. Einige blieben misstrauisch.
BANDEL: Diese Verworfenen.
HERMANN: Ich musste meinen Erzwidersacher – meinen Schwiegervater – bändigen, ihn auf den zweiten Platz verweisen. Segestes war brandgefährlich.
BANDEL: Der Ehrvergessene. Der Römling.
HERMANN: Segestes‘ Haltung gegenüber Rom war annehmbar.
BANDEL: Ich verstehe nicht recht.
HERMANN: Ekelhaft liebdienerisch, aber grundsätzlich auf der richtigen Spur.
BANDEL: Sie verteidigen einen Mann, der die Cherusker an die Römer auszuliefern gesonnen war?
HERMANN: Was sollte ein römischer Ritter wie ich anderes tun?
BANDEL: Als römischer Ritter, gewiss. Doch besannen Sie sich auf Ihren cheruskischen Führerrang.
HERMANN: Vielleicht ohne es zu ahnen, sagen Sie da etwas Richtiges.
BANDEL: Helfen Sie mir auf die Sprünge, Fürst.
HERMANN: Einzig der Platz an der Spitze der Cherusker schützte mich vor den Nachstellungen des Segestes. Mein Los hieß Aufstieg oder Fall.
BANDEL: Sie reduzieren den Befreiungskrieg auf die Rivalität zweier Fürsten?
HERMANN: Die Machtfrage ist keine Kleinigkeit. Macht weitet Spielräume. Öffnet Ruhmeshallen. Errichtet Denkmäler. Sie, Bandel, liefern den Beweis.
BANDEL: Die Schlacht im Teutoburger Wald als bloßer Vorwand, um den Konkurrenten kaltzustellen? Gab es kein weniger umständliches Mittel?
HERMANN: Jedes andere, als die Römer zu schlagen, wäre tollkühner gewesen. Segestes‘ Anhang war bedeutend. Ich musste Schwiegervater durch Kriegstaten überflügeln. Geltung erfechten, die nicht einzuholen war. Allein der Sieg in Schlacht und Krieg konnte die Misstrauischen unter den Cheruskern auf meine Seite ziehen. Ich trieb das lang erprobte Spiel, innere Konflikte auf einen äußeren Feind abzulenken.
BANDEL: Und die hehren Losungen von Freiheit, Tradition, Vaterland und Ruhm?
HERMANN: Parolen, die hoch und herrlich tönen, in der Tat. Vor allem der Ruhm. (Erblickt ein ihm unbekanntes Textil. Nimmt es in die Hand.) Was ist das?
BANDEL: Meine Nachtmütze. Sie rutschte mir vom Kopf, als ich – noch bevor der Morgen dämmerte – aufstand, um Ihr kupferglänzendes Heldenhaupt im Mondschein zu betrachten.
HERMANN: Flügelhelm und Nachtmütze, wie passend.
2
(An der Weser. Hauptquartier des Varus.)
VARUS: (Zu Segestes.) Sie sind rührend besorgt um mein Wohlergehen, Fürst. Jedes Ihrer Worte wiegt schwer. Doch seien Sie beruhigt. Ich bin auf der Hut. – Probieren Sie diese Pastete.
SEGESTES: Hermann ist durchtrieben wie kein zweiter.
VARUS: Vor allem ist er römischer Ritter. Mithin beides, groß bei den Cheruskern und von Augustus in Roms Adelsstand erhoben. Ein Bilderbuchfreund meiner Nation. Wie Sie, Fürst. Ganz wie Sie. Was sagen Sie jetzt, ich meine zur Pastete? Schmilzt auf der Zunge. Ausgezeichnet, nicht?
SEGESTES: Ich fürchte, Feldmarschall, Sie halten mich für befangen.
VARUS: Wer darf einem Vater verwehren, mit dem Entführer seiner Tochter zu hadern? Mag aber sein, Hermann ist nicht die schlechteste Wahl für einen Schwiegersohn. Der Mann hat Qualitäten. Nicht zuletzt die einer glänzenden Offizierslaufbahn in römischen Diensten. Wollten Sie Hermanns Vorzüge erwägen, Fürst, so hätten Sie die Lage für sich entschieden. Was halten Sie vom Wein? Füllige Himbeeraromen mit einer Spur Aprikosenfrische. Traumhaft im Abgang.
SEGESTES: Hermann dient weder Rom noch uns Cheruskern. Er kennt einzig den eigenen Ehrgeiz. Der Verräter giert nach dem Königtum. Zum Unheil Roms wie dem seines eigenen Volkes. Hermann wird Römer und Cherusker aufeinanderhetzen. Uns in Krieg und Verhängnis stürzen.
VARUS: Mein Lieber, ich bin des Augustus Mann für die schwierigsten Fälle. Ich sehe auf die Gesamtlage zwischen Elbe und morgenländischen Wüsten. Weshalb neigt sich weltweit die Waage auf Seiten Roms? Weil römische Waffen mit unserer Staatskunst einher gehen. Römer marschieren tüchtig voran und verhandeln klug. Es heißt, wir verfolgen die Politik des Teile und Herrsche. Ein Vorurteil. Zwist behagt uns nicht.
SEGESTES: Sie sprechen über Ihre Erfolge in Syrien.
VARUS: Und dem benachbarten Judäa. Dort wüteten im Palast des Königs Herodes Neid und Mord. Ich erledigte den Zwist. Seither herrscht Ruhe im Nahen Osten.
SEGESTES: Erzählen Sie, Feldmarschall. Mein Blick haftet nicht am cheruskischen Tellerrand. Gern sehe ich in die weite Welt hinaus. Wer schildert sie kundiger als Varus?
VARUS: Die Sache schien aussichtslos. Herodes der Große war ein äußerst zeugungsfreudiger Monarch. Er hätte aus seinen Söhnen eine ganze Zenturie rekrutieren können. Zahlreiche seiner Sprösslinge trachteten dem König nach Leben und Königskrone. Teilweise aus eigenem Ehrgeiz, teilweise angestachelt durch die von Herodes sitzengelassenen Mütter. Der König musste den Großteil der Brut wieder loswerden. In Judäa lief bereits das Gerücht, der König habe befohlen, alle männlichen Neugeborenen zu schlachten.
SEGESTES: Zu einem solchen Ruf muss man es erst einmal bringen.
VARUS: Augustus hatte vor sich hingezischt: „Lieber ein Schwein im Stall des Herodes als sein Sohn.“ Sie müssen wissen, Fürst, das Schwein gilt im Morgenland als unrein. Sein Fleisch befleckt.
SEGESTES: Cherusker stechen Nachbarvölker und Keiler ab, nicht die eigenen Söhne.
VARUS: Als selbst der vom großen Herodes als Kronprinz eingesetzte Antipatros seinen Vater zu meucheln sann, bestärkte ich den König darin, den Aufrührer zu beseitigen. Der Kronprinz war unrettbar. Zu sehr hatte er sich im Netz der eigenen Intrigen verfangen.
SEGESTES: Dahin auch zielt Hermanns Laufbahn.
VARUS: Nachdem Herodes der Große hingeschieden war, bewegte ich die bis auf Dolch und Gift verfeindeten Erben des Königs zu tragfähig gütlichem Einvernehmen. Froh, die Gegend befriedet zu haben, kehrte ich von meinem syrischen Posten nach Rom zurück. Augustus gratulierte mir zu dem staatsklugen Meisterstück. Der Erhabene meinte, wenn ihm erlaubt wäre, für diplomatische Kunst die Triumphalabzeichen zu vergeben, dann gebührten sie mir. – Kosten Sie vom Antilopenschinken. Delikat, nicht wahr.
SEGESTES: Sie treiben Weltpolitik. Ihre syrischen Leistungen schrieben Geschichte. Der Fall Hermann liegt leider anders. Weder Herodes noch seine Söhne oder Erben hatten sich gegen Rom verschworen. Im Gegenteil, sie bauten auf Augustus und Sie, seinen Statthalter. Wie auch ich auf Rom und Varus baue.
VARUS: Sehen Sie.
SEGESTES: Im Gegensatz zu Hermann, der den Freund und Verbündeten nur heuchelt.
VARUS: Das politische Geschäft erzwingt ein bisweilen taktisches Verhältnis zur Wahrheit. Fürst, ich wünschte, Sie wären so weit in der Welt herumgekommen wie ich. Von einem Krisenherd zum nächsten. Sie wären gelassener. Was aufrechte Cherusker wie Sie Durchtriebenheit und List nennen, das heißt woanders treuherzigste Brüderschaft.
SEGESTES: Werfen Sie mir später einmal nicht vor, ich hätte Ihnen die Wahrheit vorenthalten.
VARUS: Hermanns Brust ist mit römischen Orden und Ehrenzeichen bestückt. Er ist ein erfolgreicher Reiteroberst, der Rom auf entscheidenden Feldzügen viele wertvolle Dienste geleistet hat. Augustus sieht ihn mit Wohlgefallen. Der Mann ist eine Erscheinung. Ab und an verkehrte Hermann bei mir in Rom. Immer, wenn er mein Gast war, seufzten meine Töchter und meine Gemahlin vor Wohlgefallen. Glauben Sie mir, ich hätte guten Grund zu Misstrauen und Eifersucht.
SEGESTES: Der Kerl bedient sich, wo er nur kann. Ob an Weibern oder Verrat, bleibt einerlei.
VARUS: Sie sprechen vom Raub der Tochter, ich sage: „Einvernehmliche Entführung.“ Längst wohl hatte Thusnelda ein Auge auf Hermann geworfen.
SEGESTES: Sie war verblendet. Ist es noch.
VARUS: Ich spiele den üblen Vorgang nicht herunter. Rückkurbeln lässt er sich nicht. Eben darin, Fürst, besteht Ihre Chance, ruhmvollst in die cheruskische Geschichte einzugehen. Ihre Tochter wurde Gemahlin des rivalisierenden Sippenhaupts. Nehmen Sie dies zum Anlass eines einzigartigen Versöhnungswerks. Einen Sie die cheruskische Elite durch engste verwandtschaftliche Beziehungen. „Tu felix Cheruscia nube!“
SEGESTES: Sie eröffnen da womöglich eine neue Sichtweise.
VARUS: Aber gewiss doch. Erheitern Sie sich, Fürst. Werden Sie cremig. Am besten, ich erzähle Ihnen weitere Geschichten aus dem Orient. Ein seltsames Terrain. Es gibt Gebiete, in denen sich die religiösen Parteien bis aufs Messer befehden, obwohl sie alle an nur einen Gott glauben. Die merkwürdigsten Wanderprediger durchziehen das Land. Ein Verrückter im Kamelhaarmantel, der Heuschrecken und wilden Honig frisst, drückt seine Anhänger bis über den Scheitel ins Wasser, um sie auf den Weltuntergang vorzubereiten. Aber ich sehe, Ihr Glas ist leer. Das darf nicht passieren. Dazu ist dieser Wein einfach zu gut. (Lässt nachschenken.)
…
4
(Paris. Ein Salon. Auf einem Sockel das Modell einer weiblichen Monumentalstatue mit markant ägyptischen Gesichtszügen. Das Bildwerk trägt eine Fackel in der erhobenen Rechten. Im Hintergrund eine Abendgesellschaft.)
MARX: Junger Mann, da haben Sie also ernstlich vor, eine solch gewaltige Laterne zu schaffen?
BARTHOLDI: Ein Weltwunder wie den Koloss von Rhodos. Nützlich wie der fackeltragende Sonnengott über der Einfahrt zum rhodischen Hafen. Als Leuchtturm.
MARX: Götter, die Hilfe versprechen, sind Opium des Volkes. Betäubungsmittel für sein Elend. Das muss ein Ende haben. Des Sonnengotts Flamme soll verlöschen. Künftig taugen Fackeln einzig für Proletarier. Einen Werktätigen mit dem Brandsatz der Revolution in der Linken sollten Sie schaffen. Ein klassenbewusster Arbeiter wäre die zeitgemäße Aufgabe für einen Monumentalisten wie Sie.
BARTHOLDI: Mein Standbild verkörpert die neue Zeit. Die Epoche des Fortschritts. Der weltweiten Vernetzung. Der Effizienz. Des Freihandels. Des Wachstums. Des friedlichen Wettbewerbs. Der Freundschaft unter den Völkern. Wer miteinander im Geschäft ist, führt keine Kriege. Oder wie die Amerikaner sagen: „Business, not politics.“
MARX: Lieber Freund, Sie erklären den Kapitalismus zur Weltreligion. Wären Sie einer von den Ausbeutern und hielten sich industrielle Heerscharen von Proletariern, ließe sich geistreich mit Ihnen als meinem Todfeind konversieren. Ich würde mich dabei erstklassig unterhalten. Wüsste ich doch, dass Ihnen das Lachen bald vergehen wird. Hingegen ist Ihre Sorte Mensch weitaus gefährlicher als so ein Industriebaron.
BARTHOLDI: Ich gefährlich? Ich glaube an Frieden, Freiheit, Fortschritt und Wachstum.
MARX: Kriminell geradezu, weil Sie diese an sich löblichen Ziele mit dem Kapitalismus als Heilsbringer zu verwirklichen suchen. Sie projektieren eine Riesenleuchte an der Einfahrt zum Suezkanal. Wem denn nützen alle die hehren Zielsetzungen, die Sie beschreiben und denen Sie das Standbild widmen? Den Lohnsklaven, die unter den geilen Blicken der nach Abermilliarden geifernden Hochfinanz die Wasserstraße ausschachten? Nein. Den Arbeitern auf den Werften, aus denen die Schiffe, die den Kanal durchfahren werden, vom Stapel laufen? Gewiss nicht. Einzig Kapitalakkumulatoren – Ausbeuter – ziehen Vorteile daraus. In unverschämter Höhe.
BARTHOLDI: Weil der Fortschritt sich nur in Etappen erreichen lässt, wollen Sie ihn gar nicht erst billigen?
MARX: Sie irren. Dieser Fortschritt ist keiner der Menschheit, sondern einer fort von der Menschlichkeit.
BARTHOLDI: Immer brauchte es Avantgarden. Immer musste irgendjemand voranschreiten. Sonst wäre die Geschichte der Menschheit niemals geschrieben worden.
MARX: Woher nahmen Sie die Inspiration zu Ihrem Koloss?
BARTHOLDI: Auf meiner Reise durch Ägypten kam ich in ein Fellachendorf am Ufer des Nils. Die Schönheit und kraftvolle Grazie einer Landestochter schlug mich in Bande. Sie kennen die faszinierende ägyptisch-hellenistische Mischkultur des Altertums. Diese junge Frau vereinte die klassische Schönheit der Griechen mit der Anmut der Ägypterinnen.
MARX: Eine hübsche Bauersfrau als den Fortschritt symbolisierende Riesenlaterne? Im Zeitalter der Fabriken und Maschinen? Völlig unhistorisch. Dem, was Sie mit Ihrem Standbild aussagen möchten, gänzlich entgegen. Bester, Ihre Konzeption verfängt sich in heillosen Widersprüchen.
BARTHOLDI: Die Macht der Imagination überwindet alle Hindernisse. Des Künstlers bildender Sinn denkt zusammen, was vor der Hand weit auseinander liegt. Ohne Vision kein Weltwunder. Weder der Suezkanal noch mein Standbild.
MARX: Hirngespinste. Welchen Profit dürften die Investoren oder der Despot über Ägypten aus ihrem Projekt ziehen? Der Kanal ist sich selbst Denkmal genug. Monument des Kapitalismus.
BARTHOLDI: Kritikastern und Bedenkenträgerei bringen die Menschheit nicht voran.
MARX: Ihre Riesenleuchte würde nicht mit dem Licht der Vernunft strahlen. Sie wäre ein vielleicht glänzendes Kunstwerk, dessen fatale Wirkung auf der Knechtschaft unzähliger Proletarier beruhen würde.
BARTHOLDI: Zweifel zernagt des Menschen Seele, Glanz erhebt ihn zum Sternenzelt.
MARX: Der Zweifel ist revolutionär. Glanz ist reaktionär. Er sättigt niemanden.
BARTHOLDI: Nicht für die tägliche Notdurft lebt der Mensch. Ohne Glanz wäre das Leben unerträglich. Das Extra macht uns zu Menschen.
MARX: Sie sind ein gutherziger Knabe. Aber ein Luxusgeschöpf. Auf die rührendste Weise dekadent.
BARTHOLDI: Sehen Sie mich nach Belieben. Meine Aufgabe ist, für die Erschaffung der besten aller möglichen Welten zu streiten.
MARX: Statt von Welt, rede ich lieber von kommunistischer Internationale.
BARTHOLDI: Ich bleibe dabei, beide sind wir Weltverbesserer. Jeder auf seine Art.
MARX: Champagner?
5
(An der Weser. Hauptquartier des Varus.)
VARUS: Enorm entfernt wohnt dies aufständische Volk.
HERMANN: Der übliche Weg zu ihm ist lang und weit. Nur deshalb wagt es, sich zu erheben. Durchtrieben spielen die Empörer mit dem Zeitfaktor. Feldmarschall, schlagen Sie rasch zu. Sonst macht das schlechte Beispiel Schule.
VARUS: Rom wird zeigen, wohin sein Arm reicht.
Hermann: Sie sehen die Lage mit den Augen des Augustus.
VARUS: Das Imperium bot die Freundeshand, Rebellion ersticken seine Heere.
HERMANN: Germanen neigen zu Rausch und Mord. Mordsräusche sind ihr Zeitvertreib. Kampf bedeutet für sie Selbstzweck. Den puren Spaß an der Freude. Jeder beliebige Anlass kommt ihnen gerade recht.
VARUS: Die Völker Germaniens werde ich die Vorzüge des römischen Rechts kennen und schätzen lehren. Bald schon werden selbst die verschrobensten Waldbrüter die Segnungen der Zivilisation preisen. Augustus betreibt die denkbar engagierteste Entwicklungspolitik.
HERMANN: Rom erobert und unterwirft im Dienst des Fortschritts.
VARUS: Das Imperium arbeitet für den Weltfrieden. Die Pax Augusta.
HERMANN: Doch müssen Fortschritt und Frieden wehrhaft sein.
VARUS: Unvermeidbar.
HERMANN: Schon in Syrien bewiesen Sie sich als Diplomat im Waffenrock. Wer anderer als Sie hätte die Affäre um die Nachfolge des Herodes friedlich zu lösen gewusst?
VARUS: Als Feldherr bin ich Diplomat, als Diplomat Feldherr.
HERMANN: Ein brillanter Chiasmus. Wenn Sie in den Krieg ziehen, dann setzen Sie die Staatskunst mit anderen Mitteln fort.
VARUS: Exakt. Am Ende müssen stabile Strukturen herrschen.
HERMANN: Die Aufständischen zählen darauf, dass die Römer keine Abkürzungen durch das schier endlose Dickicht ihrer Wälder kennen. Sie wähnen die Zeit auf Seiten der Erhebung. Die Verräter werden Nachbarn und Übernachbarn aufwiegeln. Schon jetzt zündeln sie, wo immer sich Empörung entfachen lässt. Wehren Sie dem Flächenbrand, Feldherr.
VARUS: Die germanischen Urwälder geben römischen Kartographen noch für Generationen zu schaffen.
HERMANN: Sie sagen es. Nehmen Sie daher mit meinen cheruskischen Spähern Vorlieb. Es drängt. Tempus fugit. Die Stunden eilen, Feldherr.
VARUS: Wie viel Zeit spart die unbekannte Route?
HERMANN: Haarscharf die zum Sieg notwendige.
VARUS: Längst schon möchte Augustus meine Verdienste angemessen würdigen. Jetzt wird ihm die Gelegenheit. Es gilt Lorbeerkranz und Triumphzug.
HERMANN: Ich sehe Sie dem Erhabenen zum Wohlgefallen im goldenen Wagen auf der Straße der Sieger. Umjubelt vom römischen Volk.
VARUS: Gewinne ich Zeit und Sieg, werde ich Ihre Aussichten auf den cheruskischen Königstitel entschieden fördern. Mir wurde berichtet, Sie streben danach. Wahrhaftig, Sie taugen zu einem germanischen Herodes dem Großen.
HERMANN: Reden wir davon, wenn die Zeit reif ist. Die brandgefährliche Gegenwart gebietet, schleunigst aufzubrechen.
VARUS: Morgen in aller Frühe marschieren wir. Für heute Nachmittag bestelle ich den Generalstab ein. Sie werden Vortrag halten. Ich rede jetzt nicht mit dem Cheruskerfürsten, ich befehle dem römischen Oberst.
HERMANN: Verfügen Sie über mich, Feldmarschall.
SEGESTES: (Tritt hastig auf.) Verrat! Rom wird in die Falle gelockt. Und der Verräter steht vor Ihnen.
HERMANN: (Zu Segestes.) Du magst vieles sein, Schwiegervater, ein Verräter bist du nicht.
SEGESTES: Wer spricht von mir? Schamloser du, der meine Tochter raubte. Du zielst auf Vernichtung der Römer.
HERMANN: Worauf sonst? Varus, ich werde Ihr Heer niedermetzeln. Sie, Feldmarschall, mit dem Schwert durchbohren.
VARUS: (Lacht.) Der Scherz ist derb. Er passt in die Gegend.
SEGESTES: Witzelei tarnt grausamen Ernst.
HERMANN: Bin ich Selbstmörder? Wer – wie ich – an römischen Feldzügen teilnahm, wird sich niemals erfrechen, tollkühn und aussichtslos einer den Feind schier überrollenden Kriegsmaschine zu trotzen. Ich zöge gegen mein zivilisiertes Selbst zu Feld. Ich bin römischer Ritter. Oberst des Augustus.
SEGESTES: Was wiegen dir römischer Ritterrang und römisches Offizierspatent? Was der cheruskische Fürstenstand? Gegen den Monarchentitel, nach dem du gierst! Ein Sieg über die Römer, wähnst du, wird dich auf einen Gipfel stellen, zu dem die Cherusker: „Sei König!“, empor jubeln. Feldmarschall, lassen Sie Hermann augenblicklich festnehmen. Berufen Sie unverzüglich ein Standgericht. Hochverrat verdient scharfes Gesetz und Tod.
VARUS: Liebe Freunde, Sie beide sind ausgezeichnete Mitstreiter des römischen Volkes. Zweifellos, Segestes, handeln Sie zum Besten unserer gemeinsamen Sache. Nicht anders fasst Hermann das unverbrüchliche Bündnis Roms mit den Cheruskern auf.
HERMANN: Cherusker bin ich von Geburt und Pflichten, Römer aus freier Wahl und zu meines Volkes Bestem.
SEGESTES: Römergleich sprichst du gegen Rom!- Feldmarschall, schließen Sie diesen Heuchler und mich in Ketten. Ich werde die Haft dulden, um Schaden von Ihnen zu wenden.
VARUS: Nach Verrat zu fragen, halte ich für nicht zielführend. Vielmehr stimmt – Sie verzeihen das offene Wort – die Beziehung zwischen Schwiegervater und Schwiegersohn bedenklich. Beide missverstehen und reden einer am anderen vorbei. Segestes und Hermann, Sie sind meine Freunde. Zerwürfnisse unter Gefährten schmerzen doppelt. Sobald der anstehende Feldzug beendet ist, werde ich mein Bestes geben, um Sie zu versöhnen. Schließlich gelang mein Friedenswerk selbst im herodianischen Königshaus. – Ich hoffe, Segestes, auch Sie werden mich ins Feld begleiten.
SEGESTES: Habe ich die Wahl? Sie sind in Gefahr, ich bin Ihr Verbündeter.
HERMANN: Roms Siege werden nicht aufhören, bis es den Rand des Erdkreises erreicht. Dort erst wird es rasten.
VARUS: Das ist, wozu uns die Götter beriefen.
6
(Die Bühne ist leer.)
THUSNELDA: Du ragst höher noch, als ich dachte.
RIESENWEIB: Wissen wie das meine wächst über Baumwipfel hinaus.
THUSNELDA: Nur aus einem Grund suchst du Menschen auf.
RIESENWEIB: Halb stehe ich im Leben, halb im Jenseits.
THUSNELDA: Du tratest Drusus, dem größten Feldherrn der Römer und Liebling des Augustus, vor Augen.
RIESENWEIB: Tags darauf scheute sein Pferd. Der Feldherr stürzte verhängnisvoll.
THUSNELDA: Und lag nach wochenlangen Qualen tot.
RIESENWEIB: Das unrühmliche Ende eines Mannes, der wert war, von Germanenhand zu fallen.
THUSNELDA: Drusus war Römer. War Feind.
RIESENWEIB: Er ahnte, dass ich nahte.
THUSNELDA: Ich muss sterben.
RIESENWEIB: Wie jeder Mensch. Von Geburt an.
THUSNELDA: Wenigen erscheinst du.
RIESENWEIB: Denen, die mich spüren.
THUSNELDA: Ich hänge am Leben. An Hermann.
RIESENWEIB: Früh suche ich dich heim. Für Thusnelda wage ich mein Amt bis zum Götterzorn vor.
THUSNELDA: Mein Tod wird fürchterlich sein.
RIESENWEIB: Grausam nicht, schmählich.
THUSNELDA: Hermann wird an den Römern scheitern?
RIESENWEIB: Ich muss schweigen.
THUSNELDA: Gelänge ihm, Varus zu bezwingen, stündest du nicht hier.
RIESENWEIB: Ich schließe die Lippen.
THUSNELDA: Varus wird mich nach Rom schleifen.
RIESENWEIB: Nicht Varus. Varus nicht.
THUSNELDA: Wer dann? Sprich geradeaus.
RIESENWEIB: Du wirst dein Leben verwünschen.
THUSNELDA: Die Todverkünderin redet von einem Leben, schlimmer als der Tod? – Wann trifft mich die Schmach? Morgen? Übermorgen? Noch in dieser Woche?
RIESENWEIB: Nicht morgen. Nicht übermorgen. Nicht in dieser Woche. Denke langfristig.
THUSNELDA: Dann erscheinst du zur Unzeit.
RIESENWEIB: Du bist zweifach treu. Dem Gemahl und dem Vater. Du kennst beider Pläne, weißt, was Hermann und Segestes gegeneinander aushecken. Keinem von ihnen verrätst du ein Sterbenswort. Zwar grollst du dem Vater, aber du verschweigst Hermann dessen Machenschaften. Die doppelte Anhänglichkeit wird dir schaden.
THUSNELDA: Segestes setzt die Tochter aufs Spiel. Mahne ihn.
RIESENWEIB: Ihm fehlt der Sinn für mich.
THUSNELDA: Hermann wird die Demütigung abwenden. Warne ihn.
RIESENWEIB: Auch für Hermann bin ich Luft. Er handelt, wie er mag. Ich komme nicht vor.
THUSNELDA: Der erste Schreck ist überwunden. Ich sage nun, die über Hermann ist vielleicht die beste deiner Botschaften.
RIESENWEIB: Wem ich zum Ziel tauge, darf ich nicht wählen. Hermann streift in fremden Bezirken.
THUSNELDA: Töte mich statt Elend zu verkünden.
RIESENWEIB: Thusnelda schickt mir ihr Denken und Fühlen, aus denen sich bündelt, was ich ihr melde. Ich bin deine Freundin.
THUSNELDA: Ich müsste dankbar sein. Kann es nicht.
RIESENWEIB: Mein Amt schließt aus, dass man mir dankt.
THUSNELDA: Du Traurige.
RIESENWEIB: Rüste dich. Zur Witwenschaft. Zur Unbill durch feindliche Marschälle. Zur Verschleppung nach Rom. Zu tausendfachem Hohn. Zu zweifelhafter Gnade.
THUSNELDA: (Zieht ein Messer hervor.) Lieber dies!
RIESENWEIB: (Packt Thusnelda am Unterarm. Das Messer fällt zu Boden.) Nicht.
THUSNELDA: Die Todesbotin missbraucht ihr Amt? Du zwingst mich zu leben?
RIESENWEIB: Die achtbar erliegen, meide ich. Tapfere, die kläglich enden, suchen mich. Drusus selbst, der größte Feldherr seiner Zeit, fiel nicht in der Schlacht. Seine Gedanken und Eroberungspläne überquerten die Elbe. Drangen zu mir. Ich ließ mich finden. Sein Pferd scheute. Drusus stürzte. Starb. – Ein großer Mann. Sein Tod verschonte weite Gegenden Germaniens vor den Römern. – Du wirst dich fassen. Dich zum Leben entschließen.
THUSNELDA: Wem willfährt die Liebende? Einzig dem Geliebten. Wem beugt sich die cheruskische Fürstin? Dem Volk allein. Wen wird die Tochter des Segestes nicht verraten? Den Vater.
RIESENWEIB: Sicher.
7
(Bandels Atelier in Hannover. Die Zahl riesiger Kupferplatten hat zugenommen. Ferner Stahlträger für das Gerüst im Inneren des Denkmals.)
MARX: Viel Metall.
BANDEL: Tonnenweise.
MARX: Beine, Arme aus Riesenröhren.
BANDEL: Die sich zum lebendigen Ganzen fügen werden.
MARX: Noch immer nimmt mich der Eindruck der jüngst hier in Hannover fertiggestellten Kanalisation gefangen. Ich besichtigte das Labyrinth, bevor ich zu Ihnen kam. Das hannoversche Abwassersystem setzt Maßstäbe. Welcher Fortschritt spricht aus Ihrem Denkmal?
BANDEL: Werfen Sie einen Blick in des Nationalhelden strahlendes Auge. Blendend, nicht wahr?
MARX: Held heißt mir, wer die Ketten der Armut sprengt.
BANDEL: Hermann tat den ersten Schritt zu einem geeinten Deutschland. Wem ist erlaubt, sich angesichts der Nation als arm zu empfinden?
MARX: Jenen, denen das Geld mangelt, um für Denkmäler wie das Ihre zu spenden. Der Arbeiterschaft in den Fabriken.
BANDEL: Dorther kommen die Stahlträger für Hermanns inwendiges Gerüst.
MARX: Ein bizarrer Bund von reaktionärem Denken und neuester Technologie. Dieser deutsche Recke, ein Produkt des Industriezeitalters.
BANDEL: Industrie ist Mittel zum nationalen Zweck.
MARX: Der hieße mir der größte unter den Bildhauern, der einen stolzen Arbeiter von der Größe Ihres Hermann schüfe. Einen klassenbewussten Proletarier, nicht mit dem Schwert, sondern mit dem Hammer seine Bedrücker in den Boden rammend.
BANDEL: Es gilt, die Deutschen unter Hermanns hoch gerecktem Streitarm zu einen.
MARX: Was hat die Arbeiterschaft davon?
BANDEL: Das Wissen um und die Empfindung von der Erhabenheit der Nation. Patriotismus hebt den Menschen aus der täglichen Notdurft zum Bewusstsein des größeren Ganzen. Deutschlands. Seiner allseits ersehnten Einheit. Aus den Fabriken werden Arbeiterscharen in langen Zügen zu Hermann emporwallen. Sich als Nachfahren der alten Germanen empfinden lernen. Hermann als Nationengründer huldigen. Ich bin der festen Überzeugung, solch wehrhaft, streitbar, kampftüchtig, deutsche Hochstimmung wird Herrscher und Untertanen, Gutsbesitzer und Tagelöhner, Professoren und Handwerker zusammenschmieden. Nicht minder die Männer der Industrie, Fabrikanten und Arbeiter. Deutschland eint sich im Zeichen des Cheruskers.
MARX: Die alten Germanen wussten nichts von Fabriken, geschweige industriellen Heerscharen.
BANDEL: Die wirtschaftlichen Verhältnisse sind wandelbar, die Nation hat Bestand.
MARX: Staat und Gesellschaft ändern sich mit der Produktionsweise. Menschliche Beziehungen fußen auf Ökonomie.
BANDEL: Reden Sie ernsthaft der Geist- und Gesinnungslosigkeit das Wort? Ganz so wie in den parlamentarischen Debattierclubs?
MARX: Parlamente nutzen Bürgern, nicht der Arbeiterklasse. Die Macht des Proletariats schöpft aus der sozialen Bewegung. Werktätige verachten bürgerliche Institutionen. Sie werden Arbeiterräte gründen.
BANDEL: Bei mir gilt es der Kunst. Dem großen Ganzen. Dem Bewusstsein der Nation von sich selbst. Der Einheit Deutschlands. Nicht irgendwelchen Detailfragen. Gleich Hermann, der weit über den Teutoburger Wald hinausblickte und als Denkmal auch wieder spähen wird, sehe ich über alle Spaltungen Deutschlands in Teilstaaten ebenso hinweg wie über die gesellschaftlichen Verwerfungen. Deutschland einig Vaterland!
MARX: Von meinem Klassenstandpunkt aus betrachtet, ist mir die Nation zu gering. Das Proletariat zielt auf internationale Erhebung.
BANDEL: Welscher Tand, vor dem Hermann ausspeit.
MARX: Dann hat er keine Botschaft für die Zukunft.
BANDEL: Blut und Eisen lässt er sprießen. Gleich einem Blitzgeschwader, befiehlt sein Blick, sein hoch über Gaue und Volk sich schwingender die ragend gleißende Klinge bis an die Wolken streckender Schwertarm die Gründung des Deutschen Reiches.
MARX: Mag sein, tatsächlich eine geschichtliche Notwendigkeit.
BANDEL: Unabweisbar.
MARX: London ist berühmt für seine Wettbüros.
BANDEL: Wie darf ich das verstehen?
MARX: Dort lässt sich auf alles setzen, was irgendwie nachprüfbar sein wird.
BANDEL: Was frommt es mir?
MARX: Ich frage mich, ob ich ein Sümmchen an Ihr Denkmal wagen soll.
BANDEL: Sie sprechen in Rätseln.
MARX: Werde ich darauf wetten, dass Sie es noch vor Gründung eines Deutschen Reiches vollenden?
BANDEL: Sehen Sie mich in Verlegenheit.
MARX: Oder darauf, dass das Deutsche Reich errichtet wird, ehe Hermann auf dem Sockel steht?
BANDEL: Zeitnah verbunden wünsche ich beide Ereignisse.
MARX: Keine Diplomatenfloskeln. Sprechen Sie nur frei, ich richte mich nach dem, was Sie empfehlen.
BANDEL: Es ist Ihre Wette. Ihre Entscheidung. Ich gewinne in beiden Fällen.
MARX: Engländer lieben sportliche Rennen. Ob mit Pferden, Hunden oder Ruderbooten bleibt sich gleich. Das hat auf mich abgefärbt.
BANDEL: Desto fester vertraue ich Ihrer Expertise. Zumal ich mich selbst nicht unter Turnierbedingungen wähne. Bringe ich mein Werk zu Ende, bevor das Deutsche Reich ersteht, so gilt das Monument als Wegweiser. Geschieht es im Nachgang, verherrlicht Hermann die deutsche Großtat.
MARX: Ein wenig mehr Sportsgeist dürfte Ihrem Unternehmen nicht schaden.
BANDEL: Konkurrenzen sind meine Sache nicht. Mich beseelen Lauterkeit und Biedersinn. Deutsche Werte.
MARX: Keine günstigen Voraussetzungen für ein Gewinnspiel. Ich werde dennoch setzen.
BANDEL: Worauf denn nun?
MARX: Der Augenblick wird es mir eingeben. Wetten ist bei mir Stimmungssache.
…
10
(Teutoburger Wald. Morast.)
VARUS: Drei Legionen zermalmt. Die Geschichtsschreiber werden über mich herfallen. Dank dir, o Sumpf! Sei gepriesen, du Moor! Menschenfresser, du! Zyklopenmagen. Die Barbaren sind deine Krallen, Fänge und Schlünde.
RIESENWEIB: Römische Begriffe und römische Spielregeln scheitern an Hermanns sieghafter Tücke. Du, Römer, handeltest nach Gewohnheit. Also verdirbst du.
VARUS: Bist du die, die dem Drusus erschien?
RIESENWEIB: Dir jedenfalls gelte ich nicht. Ich schweife über das Schlachtfeld, um mich an Hermanns Sieg zu weiden.
VARUS: Das ist keine Schlacht. Germanen sind meuchelnd frevelhaft verschlagenes Ungeziefer. Niederträchtiges Gezücht. Freischärler, Heckenschützen, Partisanen, Guerilla, Terroristen.
RIESENWEIB: Ich bin zu groß für dich Insekt. Zu hoch gewachsen für dein loses Maul.
VARUS: Jetzt, da ich im Morast feststecke, darfst du dich gefahrlos gen Himmel recken. Lange lauertest du Mörderin im Dickicht. Du bist nichts denn Prahlerin. Eines Hermann und seines Nachruhms wert.
RIESENWEIB: Fremd bin ich dir bis in den Tod. Nicht einmal im Sterben begreifst du.
VARUS: Ruchlose! Ich kotze. Speie kochende Magensäfte auf dich. Ich ätze dich Vettel fort.
RIESENWEIB: (Tritt nahe an ihn heran.) Versuch’s. Mein Herz ballt den Totendunst der Tapfersten und die Jubelrufe der Walküren. Zwischen den Schenkeln trage ich ein Geschlecht, das sich verwegen und stark aus dem Morgentau der Wälder und Auen zeugt.
VARUS: Treubruch und Scheiße sind Cheruskermetier. Ein Sumpf aus Germanenkacke. Schon um dem Gestank zu entgehen, muss ich mich entleiben.
RIESENWEIB: Dieses Land und seine Menschen sind unfassbar. Unfassbar groß. Unfassbar siegreich.
VARUS: Unfassbar scheiße.
RIESENWEIB: Du wirst kein Wort herausbringen, das lohnt, auf die Nachwelt zu kommen. Zeit, sich zu entleiben.
VARUS: Scheißgermanen! „Wehe den Siegern!“
RIESENWEIB: Hilflos verdrehst du geflügelte Worte. Wo prangt die vielgerühmte Todesverachtung römischen Heldenmuts?
VARUS: Germanenkacke verdient kein Heldentum. Feind, der sich dem Feind nicht stellt, der Ehrlose heißt Cherusker! Cheruskerarsch! Hermann Arschloch!
RIESENWEIB: Immerfort winselst du in eingefahrenen Bahnen. Wahrlich verdient Varus, dass er zugrunde geht.
VARUS: Rom verliert eine Schlacht. Mag sein, ich fahre eine der bittersten Niederlagen der Weltgeschichte ein. Ob er den Barbarenfrevel duldet, wird euch der rächende Augustus lehren.
RIESENWEIB: Jammerrede. Jaulen. Gekrächz. Dein Schwert wartet. Du sollst dich hineinstürzen. Hermann ist dir auf den Fersen. Du hast die Wahl zwischen Tod und Tod. Entleibe dich selbst oder werde vom Sieger abgestochen wie der feiste Eber, entscheide dich!
VARUS: Du gönnst mir den Selbstmord, weigerst Hermann, sein Werk zu vollenden?
RIESENWEIB: Dich Wrack über die Klinge springen zu lassen, kann seinen Ruhm nicht fördern. Mach‘ Schluss.
VARUS: Du rätst den deinen, nicht mir.
RIESENWEIB: Für dich genügt mein Unrat.
BANDEL: (Tritt auf.) Ich sehe den zagen Römer. Wo aber schweift Hermanns Heldenblick? Vor lauter Bäumen kein Recke.
SEGESTES: (Tritt auf.) Der Sieg ist total. Fatal.
BANDEL: Fort mit dem Römer, dem Bild der Schmach auf ganzer Linie und Drückeberger vor der Selbstentleibung! Wann tritt Hermann mir vor Augen?
SEGESTES: Feldherr, geben Sie sich den Rest. Hier ist nichts mehr zu holen. Sie schlugen meine Warnungen in den Wind. Jetzt knien Sie im Kot. Ihre Lage ist verzweifelt, die meine mindestens heikel. Ihnen steht der Tod vor Augen. Mir Hermann, dem Ihr Scheitern erlaubt, nach dem Königsamt zu greifen.
VARUS: Dies Elend ist Produkt des bloßen Augenblicks. Hermanns Ende und das der Cherusker wird fürchterlicher sein, als römische Truppen je untergingen.
BANDEL: Hermann, wo bleibst du? Entwachse dem Holz! Der Feind versank. Du darfst dich zeigen.
SEGESTES: Rom gezüchtigt, weil Hermann es hinderte, nach Römerart zu kämpfen. So weit, so schlecht. Und nicht zu ändern. Doch Cherusker, in deren Hirnen heimtückisch heckende Mordbuben lauern, mir graut vor ihnen.
BANDEL: Ein Mann in germanischer Tracht, der den Sieg seines Volkes beklagt. Sie sind Segestes.
SEGESTES: Ihre Kleidung ist nicht cheruskisch. Ihre Sprache ist mir fremd. Zählen Sie zu den römischen Hilfsvölkern? Reden Sie, ich spreche Latein.
BANDEL: Abhold bin ich allem Welschen. Mein Blut ist germanisch. Ich huldige Hermann.
SEGESTES: Sie müssen sich vor mir nicht fürchten. Ich habe das Morden satt. Ich lasse Sie entkommen. Geben Sie Fersengeld.
BANDEL: Halten Sie mich für einen gänzlich ungermanischen hergelaufenen Römling und schwanzverklemmten Köter?
SEGESTES: Fort jetzt. Wenn wir entdeckt werden, muss ich Sie niedermachen.
BANDEL: Fluchwürdiges Fährnis! Ich wünsche Hermann mir vor Augen. Wer erscheint? Segestes.
SEGESTES: Schwachkopf, ich überlasse Sie Ihrem Verhängnis. (Ab.)
BANDEL: Hermann!
VARUS: Verräter wie er sind eine Kloake. Hermann baut seinen Ruhm auf Kacke. Sein Kriegsglück wird in Jauche ersaufen.
BANDEL: Hoch wie der Koloss von Rhodos wird mein Hermannsdenkmal in Richtung Rhein wachen. Zu Deutschlands …
VARUS: Deutschlands?
BANDEL: Zu Germaniens Ruhm und der Römer Verderben. Botschaften Sie dies dort, wohin Sie nun fahren. Zur Hölle.
VARUS: Lachhaft. Zeugt barbarisches Kriegsglück von Größe? Steht Ruhm mit Heimtücke im Bund? Verstehen Germanen zu glänzen? Nicht die Spur! Immerfort bellt Ihr wie heisere Bastarde. Kein Wunder, germanischen Schlagetots mangelt die Zivilisation, Strahlkraft, die mit Bildung und Kultur einhergeht. Bis in Ewigkeit wird Scheiße an euch kleben. Kein Nährboden für Größe, Ruhm und Brillanz. (Richtet sein Schwert gegen sich.) Hoch Augustus! Es lebe das ewige Rom!(Stürzt sich hinein.)
BANDEL: Da liegt der Hoffärtige im Dung. Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus und ich kann zu mir sagen: „Ich bin dabei gewesen.“ – Hermann, erscheine! Stemme den jeden Widerstand in Grund und Boden stampfenden Fuß in den Nacken des Besiegten!
MARX: Langfristig ist hier nichts zu holen.
BANDEL: Der deutscheste Recke schritt zu deutschester Tat.
MARX: Nationen sind bloßer Vorwand zur Beherrschung des Proletariats.
BANDEL: Nur die Nation hat staatsbildende Kraft. Worauf sonst ließe sich das Reich der Deutschen bauen?
MARX: Am Ziel aller Geschichte hört der Staat auf. Klassen und Nationen schwinden.
BANDEL: Sie waren mir immer verdächtig. Als Kommunist und Missionar einer politischen Sekte. Herr, Sie denken in völlig unhistorischen Kategorien.
MARX: Geschichte entsteht aus Verteilungskämpfen. Die Sklavenhaltergesellschaft der Römer und Germanen ist hin. Auch der Feudalismus ging zu Ende. Gegenwärtig hat der Kapitalismus Konjunktur. Die Herrschaft des Proletariats aber steht bevor.
BANDEL: Maßstäbe, die nicht taugen. Sie, Marx, sehen einzig des Menschen tägliche Notdurft. Viehische Begierden. Sie verfehlen das Wesen des Menschen.
MARX: (Blickt umher. Zeigt auf Leichen und Waffen.) Zerfleischte Leiber. Verbogener Stahl. Materie pur und tot. Macht nichts, Krieg schafft Profit. Krieg kurbelt die menschliche Reproduktion und Waffenindustrie an.
BANDEL: Solch zersetzend gänzlich unvaterländische Schwarzseherei meint nicht tapfer verwegen das römische Joch abwerfende freiheitsdurstige Deutsche. Hermanns Sieg bedeutet für jemanden wie Sie nichts als ein laues Lüftchen innerhalb eines Ihnen verhassten Systems, in das Sie unterschiedslos freche Römer und sich ihrer siegreich erwehrende Germanen pferchen.
MARX: Sie begreifen. Ich fürchte, ohne es zu wollen. Geschweige daraus zu folgern.
BANDEL: Was?
MARX: Schmelzen Sie Ihr Monument ein.
BANDEL: Angesichts aufkochender Irrlehren wie der Ihren wehrt mein Hermannsdenkmal den Verführungen jeder Art, um des deutschen Volkes wahre Größe zu künden.
MARX: Der Tag ist nicht mehr ganz fern, an dem das siegreiche Proletariat Anstoß nehmen und Ihr Monument vom Sockel reißen wird. Schade um den Riesenaufwand für ein Ungetüm, dem nur wenige Jahre beschieden sein werden.
BANDEL: Mein Werk wird Jahrhunderte währen. Ich arbeite einem tausendjährigen Reich vor. Der römische Drache liegt erschlagen. Sein Blut härtet die uralten Deutschen zur Unverwundbarkeit. Ein Blutbad für die Ewigkeit. Hermann! Hermann! Erscheine!
THUSNELDA: (Tritt auf. Blutüberströmt.) Klaffendes Fleisch, geborstene Knochen, aus Blähbäuchen quellende Innereien. Schlamm, Blut und Tod. Morastiger Sudel, aus dem neues Leben hervorkriechen wird. Wir sind sumpfgeboren. Bestimmt, zu verrotten. Tapferste allein ziemen sich für Walküren. Über kurz oder lang zecht mein Hermann in Walhall. Während ich zu stinkendem Brei zerfließe? Die Sagen erzählen von Kriegerinnen, die mit den Männern in den Kampf zogen. Heldinnen. Klarer Fall für Walhall. (Lächelt.) Römer schlachten führt mich, ob lebendig oder tot, dem Geliebten zu. Auf immer. (Erblickt einen zwischen Bäumen versteckten römischen Offizier. Hebt ihren Speer und zielt.) Steh‘ mir, Centurio! (Ehe sie den Speer werfen kann, trifft den Offizier ein Pfeil aus dem Dickicht.)
RIESENWEIB: Hier endet die Schlacht. Die Legionen sind hin.
THUSNELDA: Nie bringst du Frohbotschaft.
RIESENWEIB: Du trägst wen im Schoß.
THUSNELDA: Ich bin schwanger?
(Der Herzschlag eines Fötus im Mutterleib pocht durch den Wald.)
RIESENWEIB: Dein Kind.
THUSNELDA: Wandelte sich die Unheilskünderin zur Hoffnungsprophetin?
RIESENWEIB: Was ist Hoffnung? (Ab.)
THUSNELDA: Fort von hier. Tod taugt nicht für Kinder. (Ab.)
BANDEL: Eine geschichtliche Sternstunde, die mir mitten ins schöpferische Gemüt blitzt. Wenn jetzt noch Hermann erschiene, würde mir so hell, dass der Stern von Bethlehem zur müden Funzel verblasste.
BARTHOLDI: Diese ganze Szenerie dampft Hinterhalt, Verschlagenheit, Gülle. Kurz, den morastig deutschen Brei, in dem, was Germanen Freiheit nennen, stracks untergeht. Die Männer sind tumbe Schlagetots, ihre Weiber sollten Männinnen heißen. Sämtlich sind Germanen Wilde. Buschgesindel. Was gilt ihnen Anmut? Was Esprit? Beide sind Fremdwörter für Fürstin Thusnelda, zu schweigen vom Riesenweib. Welche Freiheit erficht sich dieses Volk von Waldschraten? Jene, auch künftig vor die fensterlosen Holzverschläge, die sie Haus nennen, zu scheißen? Oder die, umnebelt und stinkend vom beißenden Qualm ihrer Herdfeuer sich ums Leben zu saufen? Nicht meine Freiheit. Nicht die des gesitteten Teils der Menschheit. Freiheit, die ich meine, wächst aus Bildung, Gesetzen und Zivilcourage. Freiheit solcher Art überragt jedes Riesenweib, ist beseelter als Thusnelda und anmutiger noch als die Schönen Ägyptens. Freiheit, die ich meine, deren Bild ich erschaffen werde, fasst voll inwendigen Glanzes den zivilisierten Erdkreis ins Auge. Mesdames et Messieurs! Ladies and Gentlemen! Um des lieben Friedens willen auch, meine Damen und Herren. La Liberté éclairant le monde. Liberty Enlightening the World. Freiheit erleuchtet die Welt. Das Geschenk des französischen Volkes an das amerikanische. Von mir geschaffen.
(Die New Yorker Freiheitsstatue fährt vom Himmel herab.)
BANDEL: Libertäres Geschwätz! Augentrug! Des Erbfeindes gallisches Hahnengekrächz und Jammerbilder. Gewiss faseln Monsieur auch von Demokratie und Parlamentarismus. Seien Sie froh, dass ich Sie für ein Gespenst halte. Sonst würde ich Ihnen meine Sekundanten schicken.
BARTHOLDI: Ich stehe zur Verfügung.
BANDEL: Hermann! Hermann, erscheine!
BARTHOLDI: Er wird sich hüten. Kein Wunder, wer für dieses Schlachtfeld hier, dieses Ragout aus sumpfig gärendem Gekröse, Beifall heischt, den nenne ich einen Barbaren erster Ordnung.
BANDEL: Germanien diesseits des Rheins blieb frei, Gallien kam unter römische Knute. Beide Tatsachen sprechen für sich.
BARTHOLDI: Wortgefechte wie diese reißen sinnlos längst vernarbt geglaubte Wunden auf. Ich reiche Ihnen die Hand. Versöhnen wir uns.
BANDEL: Es wird Zeit, dem Franzmann wieder einmal auf das Haupt zu klopfen, um ihn Teutschlichkeit zu lehren.
BARTHOLDI: Die Rute sparen heißt, seine Schützlinge vernachlässigen. Die Deutschen als Zuchtmeister der Völker.
BANDEL: Vorerst frecher Franzosen.
MARX: Weder gründet allgemeine und umfassende Gerechtigkeit auf Nationalismus, Bandel, noch, Bartholdi, auf bürgerlichen Freiheiten. Gerechtigkeit und mit ihr die Gleichheit der Menschen formulieren einen weltumspannenden Auftrag, dessen sich, weil Feudalismus und Kapitalismus Fehlspekulationen sind, die internationale Arbeiterklasse annimmt.
BANDEL: O Hermann, wo willst du bleiben!
Alle Rechte beim Autor. Halle (Westf.) 2025