Euphorie als Krisensymptom
Wenn Standing Ovations den Spaß verderben
Neulich im Opernhaus. Wo, ist gleichgültig. Das Phänomen lässt sich inzwischen vielerorts beobachten. Kaum hat sich der Vorhang über die tödlich hingeraffte Solistin gesenkt, springt das Paar in der Vorderreihe auf die Füße, um im Stehen zu applaudieren. Rasch ist nahezu das gesamte Auditorium auf den Beinen. Publikum und Presse werden Standing Ovations melden. Dies uneingedenk jener offenbar vernachlässigenswerten Minderheit, die sich – wenngleich durchaus einverstanden mit der Produktion oder eben auch nicht – nur erhebt, um einen Blick auf die Umjubelte zu erhaschen.
Bedenklich sind sofortige Beifallsbekundungen im Stehen aus doppeltem Grund. Der gewichtigste besteht im Gruppenzwang. Wer nicht mitmacht, wird von der Mehrheit durch Versperrung der Sicht auf die Applaudierten bestraft. Sitzenbleiber sind des hehren Anblicks eines Divus, geschweige einer Diva, nicht würdig.
Zudem verfügen die frenetischen Springteufelchen über lediglich suboptimale Englischkenntnisse. Standing Ovations meinen stehenden Applaus, nicht Applaus im Stehen. Es geht um die zeitliche Erstreckung, also lang anhaltenden Beifall, nicht um die Körperhaltung. Wie so oft, führt die wörtliche Übersetzung in die Irre.
Freilich fruchten manche Irrtümer. Kolumbus irrte, als er Amerika entdeckte, aber Indien gefunden zu haben glaubte. Monteverdi irrte, als er die antike Tragödie wiederzubeleben wähnte. Statt dessen schuf er die Oper. Hingegen ist (um Nachsicht für den Kalauer) an Stante-Pede-Standing Ovations in deutschen Theatern alles Irrtum und nichts fruchtbar. Denn, was vorgibt künstlerische Leistung zu bejubeln, gehorcht in Wahrheit den gegenwärtig hierzulande grassierenden Euphorien. Euphorisch zu sein zählt in Deutschland inzwischen nachgerade zum guten Ton. Greta und #MeToo und nicht nur sie allein entflammen weite Bevölkerungskreise im Streit fürs Klima und für Gendergerechtigkeit.
Drängende, wichtige und richtige Themen sind das, doch werden sie oft und öfter mit einer sittlichen Entrüstung und zugleich einer Sentimentalität wie von verzogenen Kindern angegangen. Grundsätzliche gleichwohl nuanciert argumentierende Zustimmung gilt gar als Defätismus. Wer seine Impulse hemmt, macht sich verdächtig. Wie im Theater die Sitzenbleiber bei sonst stehend dargebrachtem Beifall vom Anblick der damit Überschütteten, werden besonnenere Gemüter vom Gemeinschaftserlebnis ausgeschlossen. Ihr Platz ist am Katzentisch. Allenfalls.
Theater ist Erlebnis in Gemeinschaft. Nichts daher gegen Wogen des Applauses, Bravi und Bravissimi, Füßetrampeln. Völlige Zustimmung, wenn sich, nachdem die Ovationen nicht abebben wollen, das Publikum schließlich von den Sitzen erhebt. Spontanes und sofortiges Aufspringen ist mir verdächtig. Ich argwöhne dabei Rigorismus und Sentimentalität. Beide wünsche ich mir weder für das Theater noch für dessen Besucher. Denn am Ende kommen dabei lausiges Theater und verdorbenes Publikum heraus.
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