Fünfte und (vorläufig) letzte Anmerkung zu Goethe
Bild von Dr. Bernd Gross - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0
Enfants terribles bei Hof
Selten lässt sich ein Stück so bündig zusammenfassen wie Goethes >Tasso<: Erfolgreicher Dichter aus niederem Adel verliebt sich in Prinzessin und wird in seine ständischen Schranken verwiesen. – Goethe schreibt als Angehöriger des Hofes für ein höfisches Publikum, als Höfling. Für Heutige besitzt das Sujet allenfalls geschichtliche Bedeutung. Längst schon wurde die Einheirat selbst von Bürgerlichen in den sogenannten Hochadel bis in die Königshäuser hinein zur Gewohnheit. Verständlich gleichwohl der anhaltende Wunsch, die Schönheiten der Hoftheater-Hervorbringung, ihre Delikatesse, ihre Emphase und Zucht auf die Bühne zu bringen. Gipfelhaft glänzt des Dramas Figurenrede im schneeweißen Marmor der unerreichten Blankverse.
Goethe betrachtet seine Titelfigur mit großer Sympathie. Eben dies ist der Grund, ihr jene Schranken aufzuzeigen, innerhalb derer sämtliche Mitglieder des Hofes, einschließlich des Souveräns, zu agieren gehalten sind. Wechselseitige Schonung und Einfühlung wie in der Ferrareser Renaissanceresidenz geübt, stand auch am Weimarer Musenhof unter dem Vorbehalt der Rücksichtnahme auf Status und Funktion der Handelnden.
Charlotte von Stein bildete Goethe voll Zuneigung und Strenge zum vollkommenen Höfling aus. Desto unwillkommener die Konfrontation mit zwei im anno horribile 1776 Weimar und vor allem ihn heimsuchenden Dramatikern, denen er sich bisher durchaus verbunden gefühlt hatte.
Im Juni kam Klinger aus Gießen nach Weimar. Theatererfolge mit >Das leidende Weib< und >Die Zwillinge< hatten ihn zum Studienabbruch verleitet. Schon am 24. Juli 1776 schreibt Goethe an Johann Heinrich Merck: „Klinger kann nicht mit uns wandeln, er drückt mich, ich habs ihm gesagt, darüber er ausser sich war und nicht verstund und ichs nicht erklären konnte und mochte.“ Nach drei Monaten musste Klinger abreisen. Zwar bot der Weimarer Hof mehr Duldung für lizentiöses Betragen auf als die meisten anderen Residenzen, doch hatte sich Klinger offenbar allzu ungebärdig und kraftgenialisch aufgeführt. Während seines Aufenthalts schrieb der wilde Poet an jenem Drama, dessen Titel der literarischen Periode, die Goethes >Goetz< eingeleitet hatte, den Namen geben sollte, >Sturm und Drang<.
Lenz, der Freund aus Straßburger Tagen, hielt sich seit Ende März in Weimar auf. Seine Dramen >Der Hofmeister< und >Der neue Menoza< hatten ihm einige Prominenz verschafft, im Jahr des Weimaraufenthalts erschienen Lenzens epochale, damals brennend aktuelle >Die Soldaten<, die vielleicht kühnste Hervorbringung des Sturm und Drang. Lenz hatte im Residenzstädtchen an der Ilm allergewogenste Aufnahme gefunden. Goethe stellte ihn Charlotte von Stein und dem Herzog vor. Karl August zahlte des Poeten Logis. Im privaten Verkehr duzten sich Herzog, Wieland und Goethe mit nun Lenz als Viertem im Bund. Nach keinem Dreivierteljahr jedoch brach Goethe mit Lenz. Der Grund ist unbekannt, Goethe notiert in seinem Tagebuch unter dem 26. November 1776 lediglich „Lenzenz Eseley“. Offenbar hatte sich der Stürmer und Dränger – selbst bei deren liberalster Auslegung – an den bei Hof geltenden Regeln für Satire, Ironie und Witz vergangen. Das, wenngleich der Herzog, die Herzoginmutter und ihr engeres Umfeld Scherze, bei denen sich Deftigkeit und literarischer Esprit verbanden, goutierten. Bislang hatte Lenz auf diesem Feld, auch wenn er sich einiges erlaubte, zum Amüsement von Herzog, Poetenkollegen und übrigem Hof beigetragen. Gut denkbar, der mutwillige Poet hat es am Ende übertrieben, indem er Goethes Beziehung zu Charlotte von Stein in kompromittierender Weise aufs Korn nahm. Jedenfalls bewog Goethe den Herzog zu Lenzens unverzüglicher Ausweisung. Das Monate hindurch hochwillkommene Originalgenie hatte Stadt und Land zum ersten Dezember 1776 zu verlassen.
Goethe schrieb geschlagene neun Jahre an >Tasso<. Das Werk entstand zwischen 1780 und 1789, der für die Heraufkunft der >Weimarer Klassik< entscheidenden Phase. Er tat mit seinem Künstlerdrama den Sturm und Drang als dichterische Attitüde und poetisches Verfahren ab. Die Besuche der beiden Dichterkollegen im Jahr 1776 hatten ihm zwei eklatante Beispiele für das Missverhältnis und die letztliche Unvereinbarkeit des kraftgenialischen mit dem höfischen Betragen vor Augen geführt.
Diese ist die vorläufig letzte der >Anmerkungen zu Goethe<. Fortsetzung folgt, sofern sich die Gelegenheit ergibt.