Lothringischer Finanzplatz

Schwerelose Gotik. Kathedrale Saint-Etienne.
Schwerelose Gotik. Kathedrale Saint-Etienne. Foto: Alain Barthel

Hoch- und spätmittelalterliche Baukunst in Metz

Auf einer Anhöhe über der Mosel ragt die Saint Etienne (dem hl. Stephan also) geweihte überaus elegante gotische Kathedrale. Das Äußere der Metzer Bischofskirche gibt sich grazil. Ihr Strebewerk scheint sich vornehm in den Gesamtkörper des Gebäudes zurückzunehmen. Seit der späten römischen Kaiserzeit standen an dieser Stelle christliche Gotteshäuser. Sie richteten sich – wie ihre sämtlichen Nachfolgerinnen – am antiken Straßensystem aus und wiesen daher nicht gen Osten, sondern ungefähr nach Süden. Ab etwa 1050 zog der ottonische Dom den Blick auf sich. Keine zwei Jahrhunderte darauf legte Bischof Konrad I. v. Scharfenberg im Jahr 1220 den Grundstein zum gotischen Nachfolgebau. Der Oberhirte aus südwestdeutschem Niederadel hatte sich gegenüber dem Kandidaten des französischen Königs behauptet, widmete aber dennoch dem von ihm in Personalunion regierten Bistum Speyer Priorität. Mag sein, dies unter anderem, weil die Metzer Kathedrale im Norden an die Stiftskirche St. Marien schloss. Zwischen den beiden Gotteshäusern war eine das Prestige des Oberhirten nicht eben befördernde Mauer vorgesehen. Unter Konrads Nachfolger Jakob von Lothringen, einem nachgeborenen Prinzen der Herzogsdynastie, einigten sich Bischof und Stift um 1250 auf einen Bauplan, der die Gesamterscheinung des Gotteshauses ins Auge fasste. Obgleich sich in den drei Jochen der einstigen Stiftskirche einfache Pfeiler reihen, während sich durch die fünf der Kathedrale solche mit vorgelegten Diensten ziehen, wird das geschlossene Bild kaum berührt: Von den Triforien an zeigt sich das Langhaus ohnehin wie von einer Hand entworfen. Bei seiner Fertigstellung im Jahr 1380 war auch die Trennmauer zwischen Bischofs- und Stiftskirche gefallen und durch ein Gitter ersetzt. Die Lösung gelang, weil Bischof Dietrich Bayer von Boppard aus der Burggrafenfamilie der Stadt im Oberen Mittelrheintal sich für einige Zeit mit seinem Klerus und den Belangen des Marienstifts zu arrangieren wusste. Chor und Querhaus der Ottonik hingegen überdauerten bis an den Beginn der Neuzeit. Erst mit Abschluss der Bauarbeiten am Umgangschor samt seiner drei Kapellen im Jahr 1520 boten sich auch diese Teile der Bischofskirche dem Auge gotisch ersetzt dar. Cum grano salis erscheint seither die Metzer Kathedrale vollständig aus einem Guss: Ihre Hochwände nehmen als feingliedrige Einhausung der enormen Fensterflächen für sich ein. Wahrlich tendiert St. Etienne zum Glasbau. Das Innere bestätigt die durchscheinende Anmutung. Die Mauern gliedern sich straff, doch keineswegs karg. Die Wand über dem Hauptportal und die Stirnwände des Querhauses treiben die gotische Tendenz, sich in Licht auflösen zu wollen, nahezu auf die Spitze. Das die sechseinhalbtausend Quadratmeter bemalter Fensterfläche überfangende Gewölbe steigt bis zu schwindelerregenden 41 Metern auf.

Kathedrale Saint Etienne. Fensterrose über dem Hauptportal. Foto: Frederike Karg
Kathedrale Saint Etienne. Fensterrose über dem Hauptportal. Foto: Frederike Karg

Zwei Meister schufen die Glasgemälde. Die des – der Name lässt es nicht völlig grundlos vermuten – denkbar aus Westfalen stammenden, aber mindestens seit seinem Wirken für Saint Etienne und bis zum Lebensende in Metz ansässigen Hermann von Münster (+ 1392) atmen den Geist der Spätgotik. Meister Hermann malte auch die sich elf Meter im Durchmesser erstreckende Fensterrose über dem Hauptportal aus. Valentin Bouch (+ 1541) war gebürtiger Strasbourger, ließ sich aber später in Metz nieder. Seine Kunst verschaffte der Hochrenaissance Geltung auf den Fenstern der Metzer Kathedrale. Wie für prominente Gotteshäuser üblich, erfordert der Ausgleich zwischen den Touristenströmen und den Bedürfnissen der Gläubigen eine Gratwanderung. So stand denn der neben seinem Beichtstuhl auf einem Schemel reuiger Sünder harrende Geistliche ohne Hast auf und schritt vor die Stufen zum Hochaltar, um einen Besucher – Freundlichkeit und Nachdruck hielten sich die Waage- zu bitten, das Basecap vom Kopf zu nehmen.

Oligarchen und Bankiers

Die Bauzeit der Metzer Kathedrale deckt sich mit einer Epoche kommunaler Blüte. Bei Grundsteinlegung der Bischofskirche glänzte die lothringische Kapitale seit kurzem im Rang der Freien Reichsstadt. „Les Treize“, dreizehn aus dem Amt königlicher Schöffen hervorgegangene Geschlechter, gaben den Ton an, eine stadtadelige Oligarchie ohne Scheu vor der Konfrontation mit dem Bischof. Der sich den Parvenus in seine neue Residenz nach Vic-sur-Seille 25 Kilometer vor Nancy entzog. Was „Les Treize“ nicht davon abhielt, vielmehr wohl noch beflügelte, das reichsstädtische Rathaus unmittelbar vis-à-vis der Kathedrale zu errichten. Dies in Gestalt eines 1317 fertiggestellten, ebenso gotisch-anmutigen wie wehrhaft von Türmen flankierten Palastes, dessen prunkendes Portal dem der Domkirche ernstlich Paroli bot. Das gotische Rathaus, dieses stolze Monument patrizischer Herrschaft, wurde im Zug der Barockisierung der Stadt abgerissen. Mittelalterlichen Zeitgenossen galt die Kommune als „Metz la Riche“. Sie war bedeutendes Finanzdienstleistungszentrum. Vernetzung mit Norditalien führte im 14. Jahrhundert zur Ansiedlung lombardischer Geldwechsler. Zeugnis davon gibt die Bebauung zu beiden Längsseiten der Place Saint-Louis, benannt nach König Ludwig dem IX. v. Frankreich, dem Heiligen; freilich erst in viel späterer Zeit. Mit ihren durchlaufenden fünf Dutzend Arkaden bewahrt die Häuserzeile im Westen weitgehend den Charakter der Erbauungszeit im 14. Jahrhundert. Die hochqualifizierten Migranten aus Italiens Norden errichteten stattliche Kombinationen aus Geschäftslokal und Wohnung. Ihre Häuser nutzten römische Fundamente.

Place Saint-Louis. Gotische Arkadenhäuser. Foto: Frederike Karg

Im Aufgehenden erstrecken sich die Bauten durch drei Geschosse. Unter den Arkaden warteten die Kunden der Geldwechsler, bis sie zum Bankschalter im Erdgeschoss vorgelassen wurden, um Devisen zu tauschen. Hoch im Kurs stand der Reichsstadt eigene Währung: Gulden – gemünztes Gold – mit dem Bild des hl. Stephanus auf der Vorder- und dem Stadtwappen auf der Rückseite. Der erste Stock nahm die Räume für den geselligen Verkehr der Bankiersfamilie auf. Selbst „Les Treize“ werden vor Besuchen nicht gescheut haben. Das Obergeschoss war privaten Wohnzwecken wie der Schlafstatt vorbehalten. Bekrönende Zinnen schließen in stadtadeliger Geste die Fassade ab. Dahinter verbergen sich stark abgeflachte Dächer. Das Streben der lombardischen Bankiers mittels der aus Norditalien importierten Zinnen und niedrigen Dächer – Würdeformeln der dortigen Stadtaristokratie – der Metzer Elite auf Augenhöhe zu begegnen, ist am Tag. Heute nehmen Erdgeschossräume und Arkaden unterschiedlichste Restaurants auf. Sobald die Witterung gestattet, okkupieren sie den Platz selbst, um sich zu einem der lebhaftesten Treffpunkte der lothringischen Kapitale auszuwachsen. Auch im Dezember wartet die Place Saint-Louis mit Plaisir für Stadt und Region auf, dem Weihnachtsmarkt. Die Empfehlung, Restaurants mit französischer Karte zu bevorzugen, liest sich wie Binsenweisheit, ist aber dennoch angebracht. Wer zu Mittag essen möchte, sollte reservieren oder zeitig erscheinen. – Während das 17. und 18. Jahrhundert sich bei den Arkadenbauten an der Westseite zwar vernehmlich, doch die mittelalterliche Erscheinung nicht allzu sehr beeinträchtigend, in Gestalt der Fensteröffnungen geltend macht, wurde die Häuserzeile an der östlichen Längsseite des Platzes damals weitgehend überformt. Nur ganz vereinzelt lassen sich dort noch gotische Schmuckformen – etwa Dreipässe – erkennen.

Verteidigungsbereite Patrizierpaläste

Geschäftliche Beziehungen über die Alpen hinweg und die in der Stadt ansässigen, ursprünglich aus der Lombardei stammenden Familien bewogen die städtische Elite zur Übernahme von Elementen patrizischen Bauens aus Italien. Vor allem der die stadtadeligen Quartiere bekrönende Zinnenkranz, hinter dem sich der niedrige Dachstuhl verbarg, hatte es den lothringischen Honoratioren angetan. Ältestes erhaltenes Beispiel ist das Hôtel Saint-Livier vom Ende des 12. Jahrhunderts. Je nach Überlieferung nimmt der Patrizierpalast entweder das Terrain der untergegangenen Residenz der Könige von Austrasien ein oder des Hauses, in dem der hl. Livarius – ein Kämpfer wider die Hunnen und Märtyrer – geboren sein soll. Der wehrhafte Charakter des Baus weist sich Zinnen und verborgenes Dach ergänzend durch einen flankierenden Turm aus. Vor Zeiten soll dessen nicht mehr erhaltenes Pendant zusätzlichen Effekt gemacht haben. Das gotische Rathaus könnte sich an der Doppelturmfassade ein Beispiel genommen haben. Die Fenster des Hôtel Saint-Livier datieren ins 13. und 16. Jahrhundert. Ohnehin herrschte hier in der Renaissance reges Umbauen.

Hôtel Saint-Livier. Foto: Bernadette Tauziede

Der Zinnenkranz als Prestigebekundung öffentlicher und privater Stadtarchitektur übrigens bürgerte sich moselabwärts und im ganzen Deutschen Reich ein. Die „Steipe“ etwa am Trierer Hauptmarkt sowie das „Haus Löwenstein“ gegenüber dem Aachener Rathaus geben sich architektonisch von der kommunalen Bewegung Italiens angeregt. Hingegen setzte sich das gleichsam von den Zinnen camouflierte flach ansteigende Dach auf Reichsgebiet allein in Metz durch. Aus gleichem Zeitgeist wie beim Hôtel Saint-Livier gelingt so mit der für die lothringische Kapitale einschlägigen Kombination dem Patrizierpalast im Gebäudekomplex des nach einer führenden Metzer Familie benannten Hôtel de Gargan, sich geradezu festungsartig zu inszenieren. Straßenseitig präsentiert sich der Bau aus dem 15. Jahrhundert blockhaft Abstand gebietend. In die Mauer schnitten ursprünglich wohl lediglich eine breite Tordurchfahrt und hoch in der Wand sitzende von einer Säule geteilte spitzbogige Doppelfenster ein. Viel später wurde ein Teil der Fassade großzügiger durchlichtet. Wie Fenstergiebel in spätestgotischer Flamboyant-Manier nahelegen, weist vieles davon ins 16. Jahrhundert.

Hôtel de Gargan. Foto: Gerard Giffay
Hôtel de Gargan. Foto: Gerard Giffay

Ein Flügel des Gebäudekomplexes war für das „Jeu de Paume“ hergerichtet. Nicht allein die städtische Elite pflegte diesen Vorläufer des Tennis, selbst König Heinrich IV. v. Frankreich griff hier 1603 zum Schläger. Ein weiterer Bau nahm das städtische Theater auf. Nun vom Schauspiel dominiert, behielt es seine Funktion auch, nachdem 1752 das Opernhaus eingeweiht worden war, bis ganz ans Ende des 18. Jahrhunderts.

Wirtschaftsbau als Machtdemonstration

Massivstes Zeugnis der Metzer Prosperität im Spätmittelalter gibt indes ein Wirtschaftsbau. Der gewaltige Klotz der von Anbeginn in öffentlichem Eigentum befindlichen Grange de Chèvremont aus dem Jahr 1457 steigert den trutzig-wehrhaften Charakter der Adelsquartiere zur Attitüde der Uneinnehmbarkeit. Der Magistrat hieß den Riesenkasten als reichsstädtisches Zeughaus errichten, doch schon zu Ende des 15. Jahrhunderts zum kommunalen Getreidespeicher umwidmen. Zwar dienten die aberdutzend winzigen Fensteröffnungen der vier Obergeschosse zur Belichtung, doch weit eher noch Durchlüftung der Waffenkammern und späteren Kornböden.

Grange de Chèvremont außen. Foto: Johann-Juergen Mohr
Grange de Chèvremont außen. Foto: Johann-Juergen Mohr

Hinter dem großzügig für hochbeladene Fuhrwerke ausgelegten Tor teilen drei den gesamten Raum in der Länge durchziehende Arkaden das Erdgeschoss in vier Schiffe. Auf stämmig-kurzen Säulen ruhen weit geschwungene Bögen, um eine Eichendecke zu stützen, deren Bohlen auf zahllosen Tragbalken verlaufen. Die Säulen der Stockwerke darüber sind jeweils über denen des Erdgeschosses angeordnet, so dass der Charakter vierschiffiger Hallen durchgehend erhalten bleibt. Heute zählt der voluminöse Bau zum Ensemble des stadthistorischen Museums Cour d’Or.

Grange de Chévremont. Erdgeschoss. Foto: Johann-Juergen Mohr
Grange de Chévremont. Erdgeschoss. Foto: Johann-Juergen Mohr

Angesichts der bei den öffentlichen und privaten Bauten vorwaltenden Martialität schien die mittelalterliche Befestigung der Reichsstadt wie eine geradlinige Fortsetzung öffentlicher und privater Bauten der kommunalen Oligarchie. Davon freilich ist als einziges Stadttor die nach dem benachbarten Hospital des Deutschen Ordens benannte Porte des Allemands erhalten. Erbaut um 1230, wurde sie am Ausgang des Mittelalters fortifikatorisch ertüchtigt. Dies, um die gleichzeitig über die Seille geschlagene steinerne Brücke zu sichern und Kanonenbeschuss zu trotzen. Das Bollwerk am Brückenkopf weist bereits in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts und dokumentiert Festungsbaukunst der Renaissance.

Porte des Allemands. Foto: paddy_c.
Porte des Allemands. Foto: paddy_c.