Das Land der Deutschen suchen

Münchner Olympiastadion. Bis zum PLO-Anschlag Ort der Weltoffenheit und Lebensfreude. Foto: ttimi27
Münchner Olympiastadion. Bei den Spielen 1972 Ort der Weltoffenheit und Lebensfreude. Bis zum PLO-Anschlag. Foto: ttimi27

Zwischen Leitkultur und Minimalkonsens

Der Entwurf für das Programm der Christlich Demokratischen Union verrenkt sich bis zur peinlichen Groteske, wenn es gilt, Position gegenüber jenen Angehörigen des Islam zu beziehen, denen sich nach eigenem Bekunden der Pfahl der freiheitlichen Gesellschaft ins religiöse Befinden bohrt. Das Geschraubte gleichermaßen der verworfenen und der von der Programmkommission approbierten Formulierung leitet sich aus dem hinter ihr lauernden und vom Parteivorsitzenden favorisierten Begriff der „deutschen Leitkultur“ ab. Der Terminus ist fatal. Parteipolitisch instrumentalisiert, taugt er zu wenig mehr als zur Giftspritze. Seine des Deutschen entkleidete Herkunft aus der Politologie freilich ist untadelig. Vor einem Vierteljahrhundert brachte ihn Bassam Tibi in die Debatte ein. Tibi versteht unter „Leitkultur“ einen europäischen common sense auf Basis von Menschenrechten, Demokratie, Aufklärung, Zivilgesellschaft und Laizismus. Während sich Mitwohnende durchaus auf die von Tibi postulierten Grundsätze verpflichten lassen müssen, wenn sie sich einem von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit grundierten Gemeinwesen zugesellen möchten, stimmt die Forderung, eine „deutsche Leitkultur“ zu bekennen, misstrauisch. Unweigerlich liefe solche Konfession auf einen Katechismus des Deutschtums hinaus. Gleich, ob auf einen großen oder kleinen, in jedem Fall einen ähnlich verzichtbaren wie die weltanschaulichen Prüfungen, denen einst den Dienst mit der Waffe Ablehnende unterzogen wurden. Deutschsein lässt sich nicht examinieren, nur leben. Ob Menschen europäischer oder überseeischer Herkunft, von der Erde oder einem Exoplaneten darauf sinnen, an Deutschland mitzuwirken, bleibt sich gleich. Willkommen ihnen allen. 

Weder Diktat noch Sparflamme

Doch wird die Verbindlichkeit unter den Mitwohnenden auf die Sprache zu beschränken niemandem gerecht. So befindet sich denn die vormalige Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration im Charakter einer Staatsministerin im Bundeskanzlerinnenamt und gegenwärtige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags völlig auf dem Holzweg, wenn sie des Landes Eigentümlichkeit auf Vokabular und Grammatik reduziert. Zumal des Hohen Hauses stellvertretende Vorsitzende Sprache lediglich als pragmatisches Verständigungselement zur Alltagsbewältigung meint. Kein Idiom dieser Welt aber wird dergestalten Minimalismus klaglos erdulden. Daher greifen beide Positionen zu kurz, die auf den allergeringsten gemeinsamen Nenner gekappte nicht anders als die Dekretierung einer „deutschen Leitkultur.“ Denn jene reduziert das Leben in Deutschland aufs bloße Funktionieren, während diese auf Gesinnungsschnüffelei hinausläuft. 

Gründe, die im Land halten

Dennoch ist ein identifikatorisches Moment vonnöten. Niemand darf vorschreiben, worin es besteht. Was das Leben in Deutschland und mit Deutschen schätzbar gestaltet, muss jede und jeder für sich entdecken. Gleichermaßen gilt das für Indigene und Migranten. Daher kann ich nur ausführen, welche Aktivposten mich subjektiv für Land und Leute einnehmen. Zunächst: Mir behagt, in einem Bundesstaat zu leben. Deutschland hat keine Zentralstaatsgeschichte. Obschon oft gescholten, ist die Föderation aus Stadtrepubliken und Territorien aufs Ganze gesehen ein Gewinn. Deutschland verdankt ihr neben vielem anderen seine immer wieder bestaunte Theater- und Museumslandschaft. Sodann: Der prächtige Kirschbaum im elterlichen Garten im Verein mit des Hamburgischen Aufklärungsdichters Barthold  Heinrich Brockes‘ Poem „Kirschblüte bei der Nacht“. In Betracht der Wissenschaft: Ich lobe mir das „Grimmsche Wörterbuch“, jenes von Jacob und Wilhelm Grimm 1838 begonnene und beinahe anderthalb Jahrhunderte nach der Brüder Tod in der Erstausgabe 1971 abgeschlossene germanistische Großprojekt, das gar während der deutschen Teilung kollegial von Ost und West fortgesetzt wurde. Gemeinschaftserlebnisse anlangend, spricht ein mentaler Erinnerungsort wie die Fröhlichkeit und Weltoffenheit bei den Olympischen Spielen von 1972, ehe der palästinensische Terror zuschlug, für Land und Leute. Unbeschwerter noch zeigten sich die Deutschen bei der Fußballweltmeisterschaft von 2006, dieser Huldigung an die „Leichtigkeit des Seins“. – Mir, der einige Jahre im Oberen Mittelrheintal gelebt hat, kommen ferner Weinberge und – je nach Gelegenheit – sauberer bis ambitionierter Riesling in den Sinn. Der lässt Heines „Lore-Ley“ ertragen und weckt die lebhaften Bilder seiner „Zwei Brüder“. Zuweilen legt sich der Schatten von Heines fragmentarischer Erzählung „Der Rabbi von Bacherach“ darüber. 

Fündig werden aus freien Stücken

Meine Auswahl entspricht persönlichen Neigungen, ist unvollständig – Musik, Bildende Kunst und Architektur blieben außen vor – und nicht allein von daher fern allen Anspruchs auf Repräsentativität. Sie will sich keiner und keinem aufdrängen. Nur empfehle ich denen, die hier Wurzeln schlagen möchten, nach kulturellen und gesellschaftlichen Vorzügen Ausschau zu halten, an die sich andocken lässt. Nach etwas, wofür sich zu bleiben lohnt. Noch einmal: Parteiprogramme oder gar Gesetze werden wenig fruchten, die innere Bereitschaft entscheidet.