Jüdisches Tagesdatum:
17 Kislev 5786

(07/12/2025)

  • Bühne
  • Buch
  • Reise
  • Kunst & Architektur
  • Politik & Gesellschaft
  • Groß in Form
  • Kommentar
  • Podcast

Anmerkungen zu Goethe

Erschienen: 3. August 2021
Trügerische Bergkuppe. Der Brocken im Winter.

Erste Anmerkung – Gipfelpoesie

Der Dichter wollte es wissen. Am 10. Dezember 1777 bestieg er – nach eigener Auskunft – binnen dreier vormittäglicher Stunden den verschneiten Brocken, damals ein kühnes, ja waghalsiges Unternehmen. Wege auf die mit 1141 Metern höchste Erhebung des Harzes waren nicht gebahnt, allenfalls Trampelpfade führten zum Gipfel. Gefährlicher noch war die Unbeständigkeit des Wetters. Oft ziehen aus heiterem Himmel Nebel auf. Zu Goethes Zeiten drohten Wanderer auf unerschlossenem Terrain die Orientierung zu verlieren und verhängnisvoll in die Irre zu gehen. Launen der Optik wie Halos formten spukhafte Erscheinungen, das Brockengespenst schien sein Unwesen zu treiben. An der Schwelle vom Hoch- zum Spätmittelalter galt der Bergesgipfel als Versammlungsort von Geisterwesen, seit dem 16. Jahrhundert stand die nun Blocksberg geheißene Lokation im Ruf des zentralen Hexentanzplatzes.

Gefahr und Spuk lockten Goethe auf den Brocken, immerhin war er umsichtig genug, sich der Führung von Förster Christoph Degner anzuvertrauen. Poetische Frucht des Abenteuers ist die >Harzreise im Winter<. Erneut schlägt Goethe darin den sturm- und drängerischen Hymnenton des >Prometheus< und >Ganymed< an. Bedeutend wirkt ins Gedicht der durch die Lektüre Spinozas vermittelte Pantheismus hinein.

Die riskante Bergtour lohnt mit dem schönsten Gipfelblick.

                                 „Du stehst mit unerforschtem Busen

                                  Geheimnisvoll offenbar

                                  Über der erstaunten Welt

                                  Und schaust aus Wolken

                                  Auf ihre Reiche und Herrlichkeit,

                                  Die du aus den Adern deiner Brüder

                                  Neben dir wässerst.“

Die letzten beiden Verse bleiben enigmatisch. Ob, wie vorgeschlagen, tatsächlich Erzadern gemeint sind, steht dahin. Freilich war Goethe wenige Tage vor seiner Brockenbesteigung in die Silbergruben des Rammelsberges bei Goslar eingefahren. Das Programmatische der Bergtour aber tritt zutage, wenn Goethe in einem Brief an Charlotte von Stein vom 7. Dezember 1777 den bevorstehenden Gipfelsturm zur „Wallfahrt“ erhebt. War der Dichter vier Jahre zuvor in seinem Prosahymnus >Von deutscher Baukunst< zum ersten Straßburger Münsterbaumeister Erwin von Steinbach als zum Inbild des Geniegedankens und Heiligen von Goethes privater Kunstreligion gepilgert, so erhebt im Schritt darüber hinaus die >Harzreise im Winter< mit dem Höhepunkt der Brockenbesteigung das lyrische Ich zur Gipfelgestalt, in deren Weitblick die Welt ersteht. Der Geniegedanke wird auf die Spitze getrieben.

Der Preis ist hoch, er besteht nicht allein im persönlichen Risiko der Bergbesteigung, er verlangt mehr noch, die „Adern deiner Brüder neben dir“ zu öffnen. Auch wenn „du“ sie nur „wässerst“, so steigt doch unweigerlich die Assoziation von Blutzoll auf, die der Genius seinen Nächsten abfordert. Es zeigt sich darin eine Verstiegenheit, vor der Goethe später wohl geschaudert hat und die ihn von der Sturm- und Drangattitüde Abschied nehmen ließ.

Der Brocken aber hat ihn weiterhin fasziniert. In den Jahren 1783 und 1784 hat er ihn zwei weitere Male erklommen.

Goethe musste laufen. Heute sorgt fortschrittliche Technologie für die Annehmlichkeit der Brockentour.
Vorheriger Beitrag
Vom Stürmer und Dränger zum katholischen Idol
Nächster Beitrag
Zweite Anmerkung zu Goethe

Neueste Beiträge

Reise

Reisevignetten aus der Mark Brandenburg

Erschienen: vor 6 Tagen

Richtung Genthin findet sich eingebettet in die havelländische Fluss-, Seen- und Kanallandschaft die im Ursprung 1745 fertiggestellte Schleuse…

Politik & Gesellschaft

In Zeiten der Seuche

Erschienen: vor 7 Tagen

Um sich zu den gegenwärtig verlautbarten Positionen angemessen verhalten zu können, braucht es die Unvoreingenommenheit und Nüchternheit des wissenschaftlichen Blicks…

Groß in Form

150 Jahre Hermannsdenkmal – (K)ein Grund zu feiern

Erschienen: vor 3 Monaten

Seit 1875 reckt die Kolossalstatue ihr Schwert gen Feind. Anlass genug, sich des Mannes zu erinnern, der dem Teutoburger Wald…

Kaminski liest

Bracht, Helene: Das Lieben danach. München 2025

Erschienen: vor 3 Monaten

In der nordwestdeutschen Kleinstadtbuchhandlung mit gediegenem Sortiment blätterte ich mich durch das Werk ohne Gattungsbezeichnung…

Tipp

Museum Peter August Böckstiegel, Werther (Westf.)

Erschienen: vor 3 Monaten

Lange pendelte er zwischen seinem Atelier in Dresden und dem Elternhaus im westfälischen Werther. Der Maler Felix August Böckstiegel (1889-1951) verkehrte…

Kategorien

Kuratierte Beiträge 64

Bühne 29

Kunst & Architektur 13

Politik & Gesellschaft 9

Buch 7

Kommentar 5

Reise 5

Tipp 4

Kaminski liest 3

Groß in Form 1

KURATIERTE BEITRÄGE

MONOPOL

Erschienen: 2 Juli um 18:57 Uhr
Jordan Wolfson möchte künstlerischen Mehrwert aus dem Tausch virtueller Realitäten…
Beitrag lesen

CONCERTI

Erschienen: 2 Juli um 18:51 Uhr
Michael Kaminski bespricht Gija Kantschelis Unheil vorausahnende und das Gemüt…
Beitrag lesen

TRANSCRIPT VERLAG

Erschienen: 2 Juli um 18:36 Uhr
Das Verlagshaus baut immer wieder auf Open Source. Wunderkammern warten…
Beitrag lesen

HARPER’S MAGAZINE

Erschienen: 2 Juli um 18:15 Uhr
Dean Kissicks Essay über die zeitgenössische Kunst hat das Zeug…
Beitrag lesen

BACHMANN-PREIS

Erschienen: 2 Juli um 17:59 Uhr
Auch wenn die Siegespalme bereits vergeben wurde, bleibt die Lektüre…
Beitrag lesen

THE JERUSALEM POST

Erschienen: 5 Juni um 13:14 Uhr
Ein spätantikes Mosaik aus der Negev-Wüste widerlegt die Klischees von…
Beitrag lesen

THE GUARDIAN

Erschienen: 5 Juni um 12:56 Uhr

Die Literatur der jungen Britin Sara Sams greift mitten hinein ins volle Leben…

Beitrag lesen

NACHTKRITIK

Erschienen: 5 Juni um 12:41 Uhr

In seinem Essay fragt Nicola Bremer nach der gesellschaftlichen Konsequenz eines Theaters…

Beitrag lesen

JÜDISCHE ALLGEMEINE

Erschienen: 5 Juni um 12:17 Uhr

Thomas Mann empfand sich als Freund jüdischer Menschen. Ob diese aber…

Beitrag lesen

ARCHÄOLOGISCHER ANZEIGER

Erschienen: 5 Juni um 12:05 Uhr

Manche seiner Periodika stellt das Deutsche Archäologische Institut zum offenen Zugang…

Beitrag lesen

Kontakt

info@kultur-kaminski.de

Rechtliches

Impressum
Datenschutz

 

© 2025 Copyrights by Michael Kaminski. All rights reserved.

 

Diese Website verwendet Cookies, um Ihr Nutzungserlebnis zu verbessern. Wenn Sie die Seite weiterhin nutzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu.