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Anmerkungen zu Goethe

Erschienen: 3. August 2021
Trügerische Bergkuppe. Der Brocken im Winter.

Erste Anmerkung – Gipfelpoesie

Der Dichter wollte es wissen. Am 10. Dezember 1777 bestieg er – nach eigener Auskunft – binnen dreier vormittäglicher Stunden den verschneiten Brocken, damals ein kühnes, ja waghalsiges Unternehmen. Wege auf die mit 1141 Metern höchste Erhebung des Harzes waren nicht gebahnt, allenfalls Trampelpfade führten zum Gipfel. Gefährlicher noch war die Unbeständigkeit des Wetters. Oft ziehen aus heiterem Himmel Nebel auf. Zu Goethes Zeiten drohten Wanderer auf unerschlossenem Terrain die Orientierung zu verlieren und verhängnisvoll in die Irre zu gehen. Launen der Optik wie Halos formten spukhafte Erscheinungen, das Brockengespenst schien sein Unwesen zu treiben. An der Schwelle vom Hoch- zum Spätmittelalter galt der Bergesgipfel als Versammlungsort von Geisterwesen, seit dem 16. Jahrhundert stand die nun Blocksberg geheißene Lokation im Ruf des zentralen Hexentanzplatzes.

Gefahr und Spuk lockten Goethe auf den Brocken, immerhin war er umsichtig genug, sich der Führung von Förster Christoph Degner anzuvertrauen. Poetische Frucht des Abenteuers ist die >Harzreise im Winter<. Erneut schlägt Goethe darin den sturm- und drängerischen Hymnenton des >Prometheus< und >Ganymed< an. Bedeutend wirkt ins Gedicht der durch die Lektüre Spinozas vermittelte Pantheismus hinein.

Die riskante Bergtour lohnt mit dem schönsten Gipfelblick.

                                 „Du stehst mit unerforschtem Busen

                                  Geheimnisvoll offenbar

                                  Über der erstaunten Welt

                                  Und schaust aus Wolken

                                  Auf ihre Reiche und Herrlichkeit,

                                  Die du aus den Adern deiner Brüder

                                  Neben dir wässerst.“

Die letzten beiden Verse bleiben enigmatisch. Ob, wie vorgeschlagen, tatsächlich Erzadern gemeint sind, steht dahin. Freilich war Goethe wenige Tage vor seiner Brockenbesteigung in die Silbergruben des Rammelsberges bei Goslar eingefahren. Das Programmatische der Bergtour aber tritt zutage, wenn Goethe in einem Brief an Charlotte von Stein vom 7. Dezember 1777 den bevorstehenden Gipfelsturm zur „Wallfahrt“ erhebt. War der Dichter vier Jahre zuvor in seinem Prosahymnus >Von deutscher Baukunst< zum ersten Straßburger Münsterbaumeister Erwin von Steinbach als zum Inbild des Geniegedankens und Heiligen von Goethes privater Kunstreligion gepilgert, so erhebt im Schritt darüber hinaus die >Harzreise im Winter< mit dem Höhepunkt der Brockenbesteigung das lyrische Ich zur Gipfelgestalt, in deren Weitblick die Welt ersteht. Der Geniegedanke wird auf die Spitze getrieben.

Der Preis ist hoch, er besteht nicht allein im persönlichen Risiko der Bergbesteigung, er verlangt mehr noch, die „Adern deiner Brüder neben dir“ zu öffnen. Auch wenn „du“ sie nur „wässerst“, so steigt doch unweigerlich die Assoziation von Blutzoll auf, die der Genius seinen Nächsten abfordert. Es zeigt sich darin eine Verstiegenheit, vor der Goethe später wohl geschaudert hat und die ihn von der Sturm- und Drangattitüde Abschied nehmen ließ.

Der Brocken aber hat ihn weiterhin fasziniert. In den Jahren 1783 und 1784 hat er ihn zwei weitere Male erklommen.

Goethe musste laufen. Heute sorgt fortschrittliche Technologie für die Annehmlichkeit der Brockentour.
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