Licht vom Licht

Isenheimer Altar (1512-1516), Auferstehung, Musée Unterlinden Colmar

Die Auferstehungstafel des Isenheimer Altars

Je dédie cet essai Alsaciens, qui ont été gravement touchés par l’épidémie actuelle.

Den von der gegenwärtigen Seuche schwer geprüften Menschen im Elsass zugeeignet.

Frühe Eindrücke

Das den Isenheimer Altar im Colmarer Unterlinden-Museum mit seinen Eltern besuchende Kind zeigte sich von Grünewalds gewaltigem Bildwerk höchstens indirekt durch Glaubensinhalte eingenommen. Was hingegen unmittelbar wirkte, waren die schroffen Gegensätze von Leiden und Beseligung, von drastisch totem Fleisch am Marterholz und der Poesie des Engelskonzerts, von Finsternis und Grabesnacht und dem inwendigen Strahlen der Gottesmutter. Dem Lichtleib des Auferstandenen.  Denkbar, es war eben dies, was die vom Antoniusfeuer Gezeichneten weit heftiger noch empfanden, wenn sie bei der Aufnahme ins Hospital des Antoniterstifts im elsässischen Isenheim vor Grünewalds Altar geführt wurden, jene Opfer der bis in die frühe Neuzeit für eine Seuche gehaltenen zum Abfaulen der Extremitäten und Wahnvorstellungen führenden Vergiftung des Roggens durch Pilzbefall, dem vor Zeiten wohlfeilsten Brotgetreide.

Materie

Auferstehungstafel, niedergestürzter Grabwächter

Vor allem kam das Kind von der Gemäldetafel mit dem Auferstandenen nicht los. Licht und Finsternis schienen ihm hier geschieden wie am ersten Schöpfungstag. Wenn in Religionsunterricht und Gottesdienst göttlicher Glanz und Erleuchtung zur Sprache gekommen waren, hatte es derlei Redensarten als konventionelle Bilder begriffen. Erst, wie Grünewald den Auferstandenen zeigt, berührte des Knaben Seele. Auch hier drang ihm das Antithetische zu Gemüt.  Nichts konnte dem Kind fester in der Materie haften denn der Felsblock, vor dem der Erlöser schwebt und der marmorne Sarkophag, aus dem sich der Auferstandene erhoben hat. Kein Menschenwerk nächst dem aus Stein ließ sich materieller vorstellen als die stahlharten Waffen und Rüstungen der Wächter am Grab. Kaum minder deren Träger. Das Gesicht des mittleren Kriegsknechts ist halbwegs kenntlich. Das Kind erschrak vor der Grobschlächtigkeit und Mitleidlosigkeit eines Söldners, der keine ihm befohlene und bezahlte Grausamkeit scheut. Gut möglich,  der nun vor der durch die Auferstehung entfesselten Energie niederstürzende Trupp verrichtete unlängst auf Golgotha sein Werk. Schlug den Heiland ans Kreuz und fasste nach dessen Aufrichtung dabei Posten. Wie immer dem sei, die Erdenschwere der Schergen unterscheidet sich lediglich graduell, nicht aber im Wesentlichen von der Stofflichkeit des Steins und Stahls. Unbeachtet ließ indessen das Kind den allzu sinnbildlichen und im Gehalt überdeterminiert auf die amputierten Gliedmaßen der vom Antoniusfeuer Heimgesuchten nicht anders als die durch Jesu Tod vom Meister verlassenen Jünger und zudem auf das Holz des Kreuzes anspielenden  Baumstumpf  im rechten Vordergrund.

Lichtvision

Auferstehungstafel, Detail

Wie hebt sich die vor einem Sternenvorhang zu Licht wandelnde Leibsgestalt des Auferstandenen in der von Haupt und Torso ausstrahlenden Gloriole von allem diesem Stofflichen und Sinnbildlichen ab!  Dem inzwischen jungen Mann erschloss das sprachlich ganz aus dem Geist des deutschen Expressionismus erwachsene und zugleich kunstgeschichtlich präzise argumentierende Grünewald-Buch Wilhelm Fraengers, dass sich vom  Isenheimer Altar sprechen ließ, ohne immerfort dessen Unsagbares zu beschwören oder ins Nebulöse abzugleiten. Der Gefahr bloßer Spekulation begegnete fortan die  wachsende Fähigkeit, Gesehenes in Worte zu fassen und sei es das Auferstehungswunder in Grünewalds visionärer Schau. Frontal, doch mit vorgebeugtem Oberkörper, die Beine und Füße zurückgesetzt, als habe er sich mit ungeheurer Kraft von der Erde abgestoßen, erhebt der Erlöser seine noch vor kurzem ans Kreuz gehefteten Arme und Hände und breitet sie die Wundmale weisend zum Segen aus. Die den  Auferstandenen schauen, begnadet er zu Zeugen seiner Materie zu Licht gestaltenden Leibsverwandlung. Die Antithesen von Körper und Geist gehen in der im Gottessohn gebündelten Energie auf. Freilich zeigt Grünewald den Lichtleib im Werden. Während sich die Extremitäten noch erst transformieren, beweist sich die Metamorphose an Haupt und Brust als Sitze von Seele und Herz vollzogen. Gleiches geschieht am ins Ereignis hineingenommenen, vom Sturm göttlicher Energie durchbrausten, den Erlöser nun wie ein Krönungsmantel einhüllenden Leichentuch. Christus ist das Licht und was er berührt wird zu Licht. Mit den Worten des Nicaeno-Konstantinopolitanums, des Großen Glaubensbekenntnisses: >Lumen de Lumine, Deum verum de Deo vero<, >Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott<. Wahrlich verdichtet Grünewald das Wunder in zuvor nie geschauter Weise. Recht betrachtet, fasst seine Gestalt des Auferstandenen gleich drei neutestamentliche Bewandtnisse in eines. Simultan vergegenwärtigen sich mit der Auferstehung die Verklärung auf dem Berg Tabor und die Himmelfahrt, mithin Ereignisse ante et post resurrectionem, vor und nach der Auferstehung.  Wie der Blick auf Raffaels zeitgleich mit dem Isenheimer Altar oder wenig später entstandene >Transfiguration< in den Vatikanischen Museen nahelegt, muss sonderlich Christi Verklärung Grünewald tief berührt haben. Raffael und er veranschaulichen die Apotheose der Christusgestalt im nämlichen Segensgestus. Indessen lässt zwar auch Raffael den Verklärten über dem Boden schweben, dessen Spiel- und Standbein aber verharren im klassischen Kontrapost. Er vermag  daher ohne jede Änderung der Bewegung sicher auf den Boden zurückzukehren. Anders Grünewalds Auferstandener, in dessen auf jede Standsicherung verzichtende Beinhaltung das Sich-Abstoßen aus dem Grab noch tönt. Grünewalds Christus schwebt wirklich und wahrhaftig. So notwendig dem Maler war, von der Verklärung auf dem Berg Tabor auszugehen, so konsequent setzt er sie in der Auferstehung fort.

Raffael, Transfiguration

Mystik

Für den Isenheimer Altar wurden Anregungen durch die >Scivias<-Visionen der hl. Hildegard von Bingen behauptet. Nahe legt diese These das auf der Tafel mit der samt Kind dem Engelskonzert lauschenden Gottesmutter die Hintergrundlandschaft akzentuierende Kloster Rupertsberg über Bingerbrück, dem die Mystikerin als Äbtissin vorstand. Zudem reiste Grünewald im Jahr 1510 in dienstlichen Geschäften seiner Zweitprofession als Wasserbauingenieur im Auftrag des Mainzer Domkapitels zur Begutachtung eines baufälligen Brunnens auf die in Sichtweite des Klosters befindliche Burg Klopp über Bingen. Doch bietet der Text Hildegards keine unmittelbaren Entsprechungen zu Grünewalds Auferstehungstafel. Denkbar bleibt immerhin, der Maler habe sich im gänzlich Allgemeinen an dem in >Scivias< geschauten himmlischen Licht und Glanz inspiriert. Auch ist an Mechthild von Magdeburg, die auf Deutsch schreibende Mystikerin des 13. Jahrhunderts, zu erinnern, deren Hauptwerk >Das fließende Licht der Gottheit< bereits im Titel die Emanationen der Auferstehungstafel präludiert.

Nachordnung

Isenheimer Altar, zweite Wandelfront

Der Kindheit längst und ein Stück weit auch dem jugendlichen Enthusiasmus entwachsen, realisierte der nun gereifte Betrachter die eher randständige Position der Auferstehung im Zusammenhang des Isenheimer Altarkonzepts. Das Gemälde fungiert lediglich als rechter Außenflügel der zweiten Schaufront, in deren Zentrum Grünewald die dem Engelskonzert lauschende Gottesmutter mit dem Kind platziert, während auf der ersten Wandelseite die Kreuzigung dominiert. Menschwerdung und Tod, Weihnachten und Karfreitag formulieren die Hauptanliegen und Kernaussagen des Altars. Kein Wunder, dass er immer wieder als mindestens Vorläufer Luthers und der Lutheraner aufgefasst wird. Der Auferstehungstafel jedenfalls billigt Gründewald formal keinen anderen Rang zu als der Verkündigung an Maria auf dem linken Außenflügel dieser zweiten Wandelfront. Seltsamer Weise aber zeigt sich deren Mitteltafel auffällig unentschieden, da ohne eigentliches Zentrum. Wie in zwei Bilder – Engelskonzert und Maria mit dem Kind – gehälftet mutet sie an. Überschneidungen der Steinplatten des Fußbodens im Vordergrund, der den Pavillon mit dem Engelskonzert rückwärtig hinterfangenden Wand und – am auffälligsten – des Waschzubers vor Maria kommen ein wenig gewollt daher und verklammern die Bildhälften eher schwach, so dass sich die zweite Wandelfront beinahe als Abfolge von vier Gemälden beschreiben  lässt. Das mag die Nachordnung der Auferstehung innerhalb des Altarkonzepts ein wenig relativieren, sie bleibt aber im Wesentlichen erhalten.

Devotio moderna

Die dezentrale Position der Auferstehungstafel hängt eng mit der auf hohen privaten Identifikationsgrad zielenden Frömmigkeitspraxis der Zeit zusammen. Ereignisse, bei denen sich Göttliches und Menschliches zutiefst berühren wie Geburt und Tod, bezeichnen die Pole der Existenz gewöhnlicher Menschen wie auch die von Jesu irdischem Dasein. Den das Kreuz ihrer Krankheit auf sich nehmenden Maladen und Moribunden des Isenheimer Siechenhauses offenbarte der Heiland seine erlösende Solidarität und Barmherzigkeit bis in Leid und Tod. Fernab der Forderung, den Gläubigen den Heroismus der Bekenner oder gar Märtyrer abzunötigen, bewog die zeitgenössische Frömmigkeitshaltung der >devotio moderna< zur gemütvollen und empfindungsstarken Einfühlung in die Passionsgeschichte. Die vom literarischen Hauptwerk dieser die Religiosität am Ausgang des 15. und Beginn des 16. Jahrhunderts prägenden Tendenz, der >Imitatio Christi< des Thomas van Kempen, angeregten Kunstwerke führten zu nachfühlend-empathischer Versenkung. Wir sind berichtet, wie ein vor dem Andachtsbild eines >Christus auf dem kalten Stein<, dem auf einem Felsblock sitzenden gegeißelten und dornengekrönten Schmerzensmann, ein zeitgemäß Frommer in stiller Andacht und tiefem Betracht unvermerkt und sanft entschlief. Trost im Sterben sollten die Isenheimer Altartafeln gewiss spenden. Doch mehr noch  sahen sie – als >quasi medicina< auf die mentale wie körperliche Gesundung der vom Antoniusfeuer Heimgesuchten ab. Heilung versprach die innige persönliche Gottesbeziehung aus dem Geist der >devotio moderna<, wie er aus Grünewalds Tafeln für den Isenheimer Altar spricht. Dass die Isenheimer Antoniter solche eher den einzelnen Menschen berührende als auf die Institution Kirche setzende Frömmigkeitshaltung favorisierten, verweist auf ihren –  nicht mit dem von in die Klosterzucht eingebundenen Mönchen zu verwechselnden – Status als Stiftkanoniker. Hierin glichen sie dem Verfasser der >Imitatio Christi< Thomas van Kempen, der Augustiner-Chorherr war. Zwar vereinte die Stiftsangehörigen das gemeinsame Chorgebet samt der Sorge um die Kranken, sonst aber führten sie ein für die Zeit erstaunlich individuelles Leben einschließlich der Pflege persönlicher Neigungen und oft großzügiger Urlaubsregelung. Die >devotio moderna< entsprach stiftischem Geist, indem sie die Frömmigkeit der je Einzelnen adressierte. Der Isenheimer Altar überträgt solche Haltung, auf alle, die vor ihn hintreten. Auch hierin kündigt sich die Reformation an.

Eigendynamik

Grünewald, Selbstbildnis? (Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg)

Die für die Frömmigkeitspraxis der >devotio moderna< lediglich am Rand bedeutende Auferstehung zog Grünewald dennoch in ihren Bann. Dies eben nicht allein auf die für einen Künstler seiner Zeit selbstverständliche Weise der angemessenen Ausführung eines ihm aufgetragenen Sujets. Gemeint sind vielmehr die innere Freiheit, Verselbständigung und Dynamik zu der sich alle Kunst, die wahrhaft gilt, von ihren Voraussetzungen emanzipiert. Für die Auferstehungstafel des Isenheimer Altars heißt das: Mochte immer der Präzeptor der Antoniter zu Isenheim Guido Guersi dem Maler ein theologisches Programm vorgeben, nach dem er sich cum grano salis zu richten hatte, innerhalb dieses äußeren Rahmens ballten und entluden sich unerahnte Kräfte, die Grünewald zu seiner Lichtvision des Auferstandenen begabten. Sicher führte solche Schau über die Einfühlung ins Bild, wie sie die >devotio moderna< nahelegte, weit hinaus. Namenloses Staunen tritt an die Stelle der Einfühlung. Doch nicht stieres Gaffen, vielmehr jene große Verwunderung, in der Platon den Ausweis von Wahrheitsliebe, Aristoteles die Philosophie anheben sieht. Christliche Betrachtung erfuhr angesichts der Isenheimer Auferstehungstafel das Wunder der Überwindung von Kreuz und Tod nicht als mehr oder minder lediglich behauptet, Grünewald übertrug des Ereignisses volle malerische Energie auf die Betrachtenden, die vor das Gemälde nicht weniger denn vor die Kreuzigung als Zeugen geladen waren. Daher wohl hat es die Auferstehung als einzige der Seitentafeln des Isenheimer Altars zu einer Verbreitung und Popularität gebracht, die den Zentralbildern mit der Kreuzigung und der dem Engelskonzert lauschenden Muttergottes mit dem Kind kaum nachsteht.

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