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Wer killt Mrs. Wilberforce?

Erschienen: 15. August 2020
Anzahl der Aufrufe: 69
Tunneleingänge als Höllenpforten. Foto: Autor

oder Boccherini untermalt die Fahrt zur Hölle

von Karl Peter Herbst

Wer im Urlaub keine Lust auf kommerziell vermarktete Attraktionen hat, mache sich auf die Suche nach versteckten oder verschwundenen Sehnsuchtsorten. Wenig eignet sich da besser als Filmlocations, nachdem man sich die entsprechenden Klassiker zur Reisevorbereitung noch einmal angesehen hat.

Für meine jüngste Londonreise wählte ich die schwarzhumorige britische Kriminalkomödie >The Ladykillers< von 1955, mit Alec Guiness als Professor Marcus, dem kriminellen Untermieter der Witwe Mrs. Wilberforce. Zusammen mit vier Kumpanen aus der Londoner Unterwelt will er einen Geldtransporter überfallen, der im nahegelegenen Bahnhof King’s Cross beladen wird. Um den Ablauf des Coups zu planen und den Tatort auszukundschaften, mietet er für ein vermeintliches Streichquartett zwei Zimmer bei der nichtsahnenden alten Dame. Das Ganze wird untermalt vom dritten Satz aus Boccherinis Streichquintett E-Dur op. 11/5, G 275, den die Ganoven immer wieder von einer Schallplatte abspielen, um Mrs. Wilberforce zu täuschen, die sich über die eifrig probenden Musiker freut. Hätte sie schon damals im Internet Zugriff auf das Boccherini-Werkverzeichnis gehabt, wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass das Ganoven-Quintett in ihrem Haus mit nur einem Cello falsch besetzt gewesen ist.

Luigi Boccherini am Cello. Gemälde von Pompeo Batoni.

Das Set mit dem windschiefen Backsteinhäuschen über dem Tunneleingang, mit Blick aus dem Fenster auf die in der Tiefe durch die Gleisschlucht qualmenden Loks, ist einer meiner Favoriten. Es hat etwas Neusachliches, ich hätte mir ein Foto von Albert Renger-Patzsch von dieser Stadtlandschaft gewünscht.

Das Häuschen wurde für den Film extra am Ende der Frederica Street errichtet. über dem Eingang des Copenhagen Tunnel, ursprünglich gebaut für die Züge der Great Northern Railway von Kings‘ Cross Station Richtung Doncaster und York. Da niemand detailliert-liebevoller Nebensächlichkeiten ausführt als britische Eisenbahnfreunde, gibt es zum Copenhagen Tunnel einen ausführlichen Wikipedia-Artikel: https://en.m.wikipedia.org/wiki/Copenhagen_Tunnel

Neugierig geworden, habe ich mich selbst auf den Weg in den Londoner Norden gemacht. Die rauchgeschwärzten Backsteinfassaden der Frederica Street sind längst gesichtslosen Appartementblocks gewichen, auf der anderen Seite der Bahnlinien stehen planlos hingewürfelte Hallen eines Distributors italienischer Käsespezialitäten und Büros eines Mediendienstleisters. Um einen Blick auf die Bahnstrecke und den Tunneleingang werfen zu können, musste ich, Verbotsschilder ignorierend, den zugemüllten Firmenparkplatz betreten.

Alec Guiness
Bild von Allan warren – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link

Von dort aus sind die Höllentore gut zu erkennen, in die die Mitglieder des Verbrecherquintetts einer nach dem anderen einfahren, nachdem sie, dramatisch in die Rauchschwaden der durchfahrenden Dampfloks gehüllt, tot in die leeren Kohlenwaggons befördert worden sind, Professor Marcus zu guter Letzt durch ein fallendes Bahnsignal. Auch die Geschichte des Sets von >The Ladykillers< hat ein Liebhaber des Genres allumfassend im Internet dokumentiert: https://www.martinunderwood.f9.co.uk/Ladykillers/. Diese Seite habe ich aber erst im Nachhinein gefunden. Vielleicht hätte ich sonst die kleine Entdeckungstour gar nicht angetreten.

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