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Hindenburgs Gespenst

Erschienen: 14. April 2021
Reichspräsident Paul v. Hindenburg – Bundeskanzlerin Angela Merkel

Die Bundeskanzlerin in bedenklicher Tradition

Geschichte wiederholt sich nicht. Daher geht an, wenn Historiker mehrheitlich den Generalvergleich der gegenwärtigen Verhältnisse mit jenen in der Weimarer Republik ablehnen. Immerhin erlauben bestimmte Konstellationen Analogieschlüsse. Ich greife den berüchtigten Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung heraus. Dieser erlaubte dem Reichspräsidenten, die „Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft zu setzen.“ Wohlgemerkt, nicht einzuschränken, wie es im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vorgesehen ist, sondern völlig auszuhebeln. Solche Machtfülle gestattete Reichspräsident Paul v. Hindenburg, sich auf dem Verordnungsweg über die Legislative zu erheben. 1931 beschloss der Reichstag 34 Gesetze, hingegen erließ der Reichspräsident 44 Notverordnungen. Als eine der wesentlichen Lehren aus den Kardinalfehlern der Weimarer Reichsverfassung schreibt das Grundgesetz dem Bundespräsidenten eher repräsentative Aufgaben zu.

Die Richtlinien der Politik werden im Kanzleramt bestimmt. Dort scheint der bislang als Menetekel der deutschen Verfassungsgeschichte begriffene Artikel 48 nun als Arbeitsauftrag verstanden zu werden. Längst schon maßt sich die Exekutive an, was dem Parlament vorbehalten ist. Denn gewiss schlug zu Beginn der Seuche die Stunde der Regierung, seit Monaten aber schon hätte das Heft des Handelns wieder auf den Bundestag übergehen müssen. Inzwischen droht das dort lammfromm abgenickte Infektionsschutzgesetz mit seinen für dessen Novellierung vorgesehenen Durchgriffsrechten den Rang einer Neben- oder – unheilverheißender noch – Parallelverfassung zu beanspruchen. Künftig zielt es auf die vom Grundgesetz verworfene und der deutschen Geschichte wesensfremde Zentralstaatlichkeit. Das Infektionsschutzgesetz wird der Kanzlerin dazu berechtigen, ihre Politik auf dem Verordnungsweg zu erzwingen. Absehbar werden die Verordnungen aus dem Kanzleramt – wie weiland die des Reichspräsidenten – materielle Gesetzeskraft erlangen, sprich gesetzesvertretend in das Leben der Menschen eingreifen.

Ganz auf dieser Linie fordert der ehemalige Verteidigungs- und Innenminister Thomas de Maizière die Zuweisung polizeilicher Aufgaben an die Bundeswehr. Offenbar verführt die Hilf- und Orientierungslosigkeit, mit der Bund und manches Land in der Pandemielage agieren, dazu, fehlenden Erfolg durch autoritäre Maßnahmen zu tünchen. Die Bundesregierung maßt sich an, was dem Parlament vorbehalten ist. Bundestag und die Mehrheit der Ministerpräsidenten entledigen sich sehenden Auges und erleichtert ihrer Verantwortung. Geschichtsvergessen treten Parlament und Länderchefs an die Bundeskanzlerin Rechte ab, die ihr erlauben werden, in Hindenburgs verhängnisvoller Manier zu wirken. Der Weimarer Reichspräsident war als Ersatzkaiser installiert. Der Machtzuwachs für die Kanzlerin bestätigt den deutschen Hang zum Obrigkeitsstaat. Die von ihr propagierte „Osterruhe“ wirkt hier einschlägig.

Zwar scheiterte das Vorhaben am Dilettantismus, mit dem es ins Werk gesetzt werden sollte, ein Fehler, der der Kanzlerin kein zweites Mal unterlaufen wird. Die Wortprägung indessen ist programmatisch. „Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht“, war die Losung, die Gouverneur Graf Schulenburg nach der preußischen Niederlage gegen Napoleon bei Jena und Auerstedt im Oktober 1806 für Berlin ausgegeben hatte. „Ruhe“ appellierte bei Schulenburg an den Untertanengeist, während Merkel wohl eher die braven Buben und Mädel im Riesenkindergarten Deutschland meint. Gut möglich, dass auf einer zweiten Ebene die Protestantin mit der Kanzlerin durchgegangen ist und sie weniger Ostern als die Stille des Karfreitags und Karsamstags im Sinn hatte. Sei dem wie ihm wolle, „Osterruhe“ gibt eine dem Charakter des Festes völlig entgegengesetzte Parole aus.

Denn zu Ostern endet die Grabesruhe. Pauken, Trompeten und Jubelchöre künden den Sieg des Lebens. Wenn die Pfarrerstochter Merkel daher „Osterruhe“ proklamiert, dann zeigt sich darin eine nicht weniger bedenkliche Umwertung von Werten wie in dem Ansinnen, auf der Grundlage des Infektionsschutzgesetzes die Suspendierung von Grundrechten ins Staatsgefüge einzunisten. Hier nun wirkt sich das Lavieren der Kanzlerin während der zweiten deutschen Diktatur aus. Sie zählte keineswegs zur Bürgerrechtsbewegung, die Courage eines Markus Meckel, Friedrich Schorlemmer oder Joachim Gauck blieb ihr fremd. Gauck suchte sie als Bundespräsidenten zu verhindern. Ihr Verhalten zu DDR-Zeiten changiert zwischen Wegducken und Opportunismus. Autoritäre Strukturen bereiten Merkel wenig Kopfzerbrechen, weder – wie in ihren jüngeren Jahren – als Rädchen im Getriebe, noch um die Richtlinien der Politik zu bestimmen.

Während ihr jeder Hang zu Ideologien fehlt, offenbart sich in ihren Plänen ein die Grundrechte nicht weniger beschneidendes technokratisches Staatsverständnis. Hindenburg war politisch davon völlig verschieden ausgerichtet, dennoch werden sich die Folgen der Notverordnungen aus dem Kanzleramt in der deutschen Geschichte allein denen des Reichspräsidenten an die Seite stellen lassen.

Paul v. Hindenburg: Von Bundesarchiv, Bild 183-R17289 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, Link

Angela Merkel: Von Olaf Kosinsky – Eigenes Werk CC BY-SA 3.0 de, Link

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