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Versuch über Rossini: Schluss

Erschienen: 10. April 2021
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Unbekannter Maler, Rossini

V

Nach langer Zeit traf ich die Freundin wieder, mit der einst der junge Mann über die Melodik des >Mosé< debattiert hatte. Sie erinnerte sich nur dunkel an jenen Abend. Kein Wunder, wir sprachen einst über so vieles. Das meiste wirkte eher indirekt in uns fort. Zwar zeigte sich die Freundin nicht unbeeindruckt, als ich ihr erzählte, dass ich  – kaum hatte mein Kater sich verflüchtigt  – gleich am nächsten Morgen erste Notizen über Rossini niedergeschrieben hatte.  Dennoch war mir klar, dass sich der Gesprächsfaden nicht mehr aufnehmen ließ. Ich hoffe aber, die Freundin wird nun erfreut lesen, wozu sie mich angeregt hat und wie ich heute über das Werk des Pesareser Meisters denke. Entscheidend half die Erwägung, dass sich – beide Antithesen sind mit guten Gründen vertretbar – menschliche Empfindungen entweder unterkomplex oder überdeterminiert äußern.

 Weinenden ist ohne Vorwissen, wenn überhaupt, nur selten anzusehen, ob dies aus Freude oder Trauer geschieht.  Und Emphase kann ebenso durch Liebe wie durch eine politische Überzeugung oder Kampfgeist veranlasst sein. Die mitunter scheinbare Beliebigkeit von Rossinis Faktur lässt sich gewiss auch mit den Produktionsbedingungen seiner Zeit erklären, die nach Schnell- und Vielschreiberei verlangten. Mindestens im gleichen Maß begründet sich die melodische Indifferenz aus der Deutbarkeit menschlicher Gefühlsäußerungen allein aus dem Kontext.  Sein Fehlen stellt uns vor nahezu unlösbare Rätsel. Den Kontext formulieren in Musik- und Sprechtheater dramatische Situation und Figurenrede.

Fallen diese fort, so bleibt oft ein lediglich abstrakter Eindruck von Begeisterung, Melancholie oder Attacke. Was Schopenhauer zu der Überzeugung veranlasst haben wird, Rossinis Melos sei absolute Musik. Fraglos zünden viele seiner Arien, Duette und Ensembles bis heute der federnden, in den Crescendi geradezu verselbständigten, Rhythmik halber. Zudem verdankt sich der anhaltende Effekt seiner Vokalise jenen glitzernden Koloraturläufen, dies sich vom dramatischen Kontext isoliert als reines Virtuosentum hören lassen.

Bis hierhin kann ich Schopenhauer nicht widersprechen.  Freilich erschöpft sich Rossinis Ingenium nicht darin. In seinen vollendetsten Werken gelangt die Kontextualisierung durch die Handlung zu jener Bestimmtheit und Prägnanz des Melos, die in anderem Umfeld nicht erreicht wird. So leistet der den >Aureliano in Palmira< einleitende Priesterchor gewiss, was er soll, doch erzielte mit bestem Grund erst die Metamorphose zu Almavivas Ständchen Weltruhm. Sicher lassen sich dafür kompositionstechnische Veränderungen anführen. Entscheidend ist der neue Kontext.  Erst in ihm findet die Melodie vollauf zu sich selbst.  Ähnliches gilt für die Verwandlung von Arsaces „Non lasciarmi in tal momento“ zu Rosinas „Una voce poco fa“.  Melodien haben viele Orte, darunter zwingende, passende und eher unverbindliche. Die beiden aus >Aureliano in Palmira< in den >Barbier< übernommenen Melodien wechselten von angemessenen in bezwingende Kontexte. Sie erfüllen so eine Bestimmung, durch die sich der >Schwan von Pesaro< über den genuinen Melodiker hinaus  in seinen besten Opern als Dramaturg von Graden erweist.

Die Musik hat das letzte Wort. Hier das >Gran pezzo concertato a 14 voci< aus >Il viaggio a Reims<, mit dem Rossini die Gattung Oper und sich selbst gehörig auf die Schippe nimmt:

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