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Maulkörbe

Erschienen: 2. Mai 2021
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Bürgerrechtler Jan Josef Liefers auf der Berliner Großdemonstration vom 4.11.1989
Bild von Bundesarchiv, Bild 183-1989-1104-032 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, Link

Scharfsinn und Aufsässigkeit in den Künsten unerwünscht

Ich habe das Schreiben über Covid-19 satt. Deshalb war für diese Stelle der Beitrag über einen Zeitgenossen Goethes vorgesehen. Immerhin kommt nun der Olympier selbst zu Wort, mit „Tasso“. Der in Liebe zur Ferrareser Prinzessin Leonore von Este entflammte Renaissancepoet – ein schwieriger Charakter – eröffnet dieser in schönster Hoffnung auf die Erwiderung seiner Neigung: „Erlaubt ist, was gefällt.“ Sie aber weist ihn in die Schranken seines Standes und seiner Stellung bei Hof: „Erlaubt ist, was sich ziemt.“(Tasso II,1) – Beide Antithesen haben vieles für sich. Ebenso viel lässt sich dagegen einwenden. In der Bühnenfigur des Dichters lebt noch viel Sturm und Drang, hingegen besteht Prinzessin Leonore auf höfischer Etikette. Während die Auffassung Tassos in letzter Konsequenz in die Anarchie führen würde, wird die höfische Zucht der hochadligen Dame absehbar in Erstarrung münden.

In „Tasso“ definiert Goethe den Punkt, an dem sich – bei allem wechselseitigen Wohlwollen – die Schere zwischen Künstler und Höfling öffnet. Künstler begeistern sich an dem, was ihnen gefällt. Ihre Fixsterne heißen Subjekt und Selbstbestimmung. Der höfische Mensch aber empfindet sich – durchaus stolz – als Objekt eines größeren Ganzen: der Ständegesellschaft und Staatsvernunft. So jedenfalls die durchaus diskutable Sicht Goethes. Während sich die Forderungen der Künste und Künstler nicht änderten, zeigt sich heute freilich die sublime Adelswelt Goethescher Imagination durch eine säkularisierte Bigotterie, geistloser als religiöse Dogmen, ersetzt. Die Schauspieler, die sich mit den Videos der Initiative #allesdichtmachen zu Wort melden, beanspruchen Tassos „Erlaubt ist, was gefällt“ als ähnlich grundlegendes Gesetz ihrer Kunst, wie es für die Physik der Erste Hauptsatz der Thermodynamik ist.

Was ihnen entgegenschlägt, ist nicht die zwar eindeutige aber freundschaftliche Zurechtweisung durch eine italienische Renaissanceprinzessin oder mindestens Angehörige des Weimarer Musenhofs. Vielmehr trifft sie ein Verdikt von der Wucht einer päpstlich-mittelalterlichen Bannandrohung. Solche Tonlage ist der aufklärerischen Vorstellung von „common sense“ oder – wie der Goethe-Mitgeborene Georg Forster übersetzte – „öffentlicher Meinung“ fremd. Nicht minder der Habermasschen Forderung nach „kommunikativer Vernunft“. Die Empörung über die Schauspieler um Liefers und Tukur beruft sich nicht auf die ratio, sondern auf emotionale Betroffenheit durch mangelnde Empathie. Es zeigt sich darin eine entschieden aufklärungsfeindliche Tendenz. Erregung frisst Denken. Denn wohl nicht einen Augenblick hatten die Schauspieler im Sinn, die Belegschaften der Intensivstationen, geschweige deren Patienten zu verhöhnen und zu attackieren. Dass dort die Nerven permanenter Überlastung halber blank liegen, dürfte auch den Bühnenschaffenden klar sein. Nicht minder zweifeln sie an den Höchstleistungen von Test- und Impfzentren. Spätestens hier hätte ich ihnen sonst mit allem Nachdruck widersprochen. Getestet und ein erstes Mal geimpft wie ich bin, staune ich noch immer über das Engagement, die Organisation und Reibungslosigkeit, mit der dort zu Werk gegangen wird.

Ich lobe alles dies in höchsten Tönen. Und wer mir dabei nur den Hauch von Ironie oder Sarkasmus unterstellt, soll mich kennen lernen.  Doch noch einmal: Medizinisches Personal und Patienten anzugehen, liegt #allesdichtmachen fern, nicht aber – in einer Demokratie völlig selbstverständlich – Regierungsschelte. Ärgerlich daher, wie die von einer medienpräsenten Notfallärztin am Essener Universitätsklinikum initiierte Gegenkampagne #allemalneschichtmachen sich den Anschein gibt, auf ruhrgebietlerisch-beherzte Weise in den Diskurs einzusteigen, um die Kontrahenten aufzufordern, doch einmal selbst Erfahrungen bei der Versorgung von Covid-19-Intensivpatienten zu sammeln. Kaum aber meldet sich Jan Josef Liefers zum Dienstantritt, weist der Chef der medienversierten Oberärztin das Ansinnen brüsk ab.

Von selbst versteht sich, dass Liefers nicht in die Falle gelockt werden sollte. Ein Schelm, wer so Böses dabei denkt.

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