Vom Stürmer und Dränger zum katholischen Idol
Friedrich Leopold von Stolberg im ostwestfälischen Exil
Der im Holsteinischen geborene Graf (1750-1819) war mir lediglich flüchtig bekannt: durch seine Klopstock eigenständig weiterführende Lyrik, die Schweizer-Reise mit Goethe im Jahr 1775, die spektakuläre Konversion zum Katholizismus am Pfingstsonntag 1800, den bloßen Titel der schon durch ihren Umfang von 15 Bänden mir Misstrauen einflößenden „Geschichte der Religion Jesu Christi“. Schließlich und vor allem durch die Streitschrift „Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier?“ des Homer-Übersetzers und einstigen Freundes Johann Heinrich Voß. Stolbergs Konfessionswechsel in der Hauskapelle der Fürstin Gallitzin schien mir bei aller Wertschätzung für den empfindsam-aufgeklärten „Kreis von Münster“ um die Hochadelige mit dem russischen Namen doch ein Symptom für die Spätzeit des Zirkels im Zeichen der Ablehnung der Französischen Revolution und ihrer Resultate. Konsequenz aber ist Friedrich Stolberg nicht abzusprechen. Der Graf verließ den höheren Staatsdienst des in Eutin residierenden protestantischen Fürstbischofs von Lübeck. Mit seiner Familie bezog der uradelige Privatier Wohnung in Münster. Hätte es damit sein Bewenden gehabt, so wäre mir mit einiger Wahrscheinlichkeit Stolbergs Name immer wieder einmal en passant begegnet, eine nähere Bekanntschaft hätte ich ausgeschlossen. Indessen hatte mich Victor Stein zu einem Arbeitstreffen nach Halle in Westfalen gebeten, in jene Gegend am Rand des Teutoburger Waldes zwischen Bielefeld und Osnabrück, darin Stolberg in den Jahren zwischen 1812 und 1816 auf dem stattlich in Renaissance- und Barockgestalt aus dem Wasser steigenden Schloss Tatenhausen samt Familie untergekommen war. Bei den über seine Tochter Julie, die auf Haus Brincke im benachbarten Borgholzhausen eingeheiratet hatte, verwandten von Korffs. Wegen seiner Kritik an den französischen Besatzern hatte er sich aus Münster absetzen müssen. Nachmittägliche Spaziergänge mit Victor Stein führten mich durch die nahebei gelegenen Wälder und gaben mir Gelegenheit, den Zustand des hinter dem Schloss gelegenen englischen Landschaftsgartens zu bedauern. Immer wieder sprachen wir über den in unseren Augen bedenklichen Konfessionsübertritt. Schwer abwendbar schien uns die Gefahr, in der Folge, weil nun endlich alles mit vermeintlich richtigen Dingen zugehen soll, zum unausstehlichen Dogmatiker päpstlicher als der Papst oder im umgekehrten Fall protestantischer als Luther zu werden.
Von Angela Marie aus NRW/Deutschland - Schloß Tatenhausen, CC BY 2.0, Link
Frommer Bestseller-Autor
Gewiss ist, Stolberg passte in die Gegend. Ab Beginn des 17. Jahrhunderts war die Grafschaft Ravensberg, in der Schloss Tatenhausen damals lag, beinahe vollständig protestantisch. Als das Territorium mit dem Herzogtum Jülich-Kleve-Berg, zu dem es als Nebenland zählte, 1614 durch Erbschaft an Brandenburg-Preußen fiel, bestand mindestens in der Religionsfrage kein Dissens zum neuen Landesherrn. Die Katholiken leben bis heute in der Diaspora und machen etwa 15 Prozent der regionalen Christen aus. Stolberg befand sich demnach auf seine missionarische Inbrunst beflügelndem Terrain. Wichtige Teile der „Religion Jesu Christi“ entstanden in den vier Tatenhausener Jahren. Angeregt durch den Münsterschen Generalvikar Clemens August Droste zu Vischering, den späteren dann von den Preußen unter Dauerarrest gestellten Kölner Erzbischof, hatte Stolberg sein opus magnum 1806 begonnen, um es zwölf Jahre später abzuschließen. Verlegt wurde die zur Erbauungsliteratur umgewidmete Religionsgeschichte bei Friedrich Perthes, dem Schwiegersohn von Matthias Claudius. Diese Verbindung zum norddeutschen Pietismus war durchaus nicht neu, Stolberg war in dessen Milieu aufgewachsen und der konfessionell durchaus nicht engstirnige Kreis von Münster unterhielt gedeihliche Verbindungen dorthin. Bis 1826 waren 8000 Exemplare des jedenfalls in quantitativer Hinsicht monumentalen Werks verkauft, für damalige Verhältnisse ein Bestseller. Nicht zuletzt, weil Droste zu Vischering und Stolberg selbst großen Wert auf wohlfeile Ausgaben legten. Nachdem das vormalige Fürstbistum Münster infolge des Wiener Kongresses 1815 an Preußen gelangt war, musste Stolberg erleben, wie die nun als Besatzungsmacht empfundenen neuen Landesherrn die protestantische Staatskirche protegierten und dem Katholizismus allerhand Knüppel zwischen die Beine warfen. Auch von hier aus begreift sich des Grafen zudem von Droste zu Vischering geteilte Forderung nach Trennung von Staat und Kirche. Den wohl einzigen Vorteil der Franzosenzeit sah der Exilant auf Tatenhausen darin, dass Napoleon, den er als Vollstrecker der Revolution betrachtete, den Bischöfen jede weltliche Amtsgewalt entzogen hatte. Der Graf soll gar vernehmen haben lassen, dass die Entmachtung des Episkopats mit der Revolution „nicht zu teuer“ erkauft worden sei. Säkularisation im Verstand von Aufklärung, Revolution und späterhin empereur lag Stolbergs Forderung nach Trennung von Staat und Kirche freilich fern. Vielmehr sollte die – wie Benedikt XVI. vor einigen Jahren in seiner Freiburger Rede formulierte – „Entweltlichung“ der Kirche das Fundament für deren Respiritualisierung legen.
Stürmer und Dränger
Hier nun stießen sich des Grafen religiöse Vorstellungen hart im Raum mit seinen Gedanken über den Staat. Denn im politischen Kern war Stolberg ganz Mann des Alten Reiches, der feudal und christlich geprägten Ständegesellschaft aus Geistlichkeit, Adel und jenen, die auf sie zu hören hatten. Volksherrschaft lehnte Stolberg ebenso entschieden ab wie den Absolutismus. Der Monarch war ihm lediglich Erster des Adels und keinesfalls substantiell von diesem unterschieden. Wer feudale Privilegien missachtete, machte sich Stolberg zum Feind. Dass diese Position mit der Haltung der Stürmer und Dränger im Einklang stehen konnte, zeigt Goethes „Goetz“, dessen Titelfigur die gegen die Adelsfreiheiten gerichteten Strebungen des Bamberger Fürstbischofs attackiert, um seine Stellung als reichsunmittelbarer Ritter zu behaupten. Ganz auf dieser Linie galt des Grafen „in tyrannos“ dem absolutistischen Regiment. Aus solchem Widerstand leben Stolbergs Dramen und wirkmächtiger seine oft rabiaten Oden. Der Furor ließ ihn die Französische Revolution zunächst als feudale Erhebung wider den absolutistischen König missverstehen. Als er seinen Irrtum begriff, schalt er sie Teufelswerk. Zumal sie in Gestalt Napoleons dem Alten Reich den Todesstoß versetzte.
Romantiker
Übrig blieb die alte Religion, der Katholizismus. Von Beginn an – seit Ludwig Tieck und Heinrich Wackenroder 1793 vom protestantischen Erlangen ins katholische Bamberg gewandert waren – zeigten sich die meist evangelisch sozialisierten Romantiker vom Katholizismus affiziert. Die für höchstes Aufsehen sorgende Konversion des Grafen bewirkte daher zahlreiche Nachahmungen. Friedrich und Dorothea Schlegel, Prinz Adolf zu Mecklenburg, der dafür die Landesverweisung durch seinen herzoglichen Vater in Kauf nahm, traten ebenso zur römischen Kirche über wie der in Metternichs Auftrag reaktionäre Gedanken publizistisch verbreitende Adam Müller, ferner der Erfolgsdramatiker Zacharias Werner, Autor des Zugstückes „Martin Luther oder Die Weihe der Kraft“, der gar die katholische Priesterweihe nahm. Stolbergs poetisches Ingenium aber versiegte, indem er seine Muse zur romantischen Engelsgestalt erbleichen ließ, um katholisch-tadellose Erbauungsliteratur und die eine oder andere restaurative Tendenzschrift hervorzubringen. Künftig leistete er dem Vorschub, was ein weiterer durch ihn angeregter namhafter Konvertit, der Maler Johann Friedrich Overbeck, auf Leinwände übertrug, verfrömmelten und romantisierten Epigonalismus, Nazarenertum.
Restauration
Zurück nach Westfalen: Ob Stolberg sich noch auf Tatenhausen oder bereits auf seinem neuen Wohnsitz Gut Sondermühlen bei Melle im Osnabrücker Land am 1816 erschienenen ersten Band der „Restauration der Staatswissenschaft“ des Schweizer Verfassungsrechtlers und nachmaligen Konvertiten Albrecht von Haller begeisterte und zur Korrespondenz mit diesem Erztheoretiker der Restaurationszeit entschloss, steht dahin. Von Haller jedenfalls bewunderte den Grafen, so wie dieser den preußischen Kronprinzen und späteren König Friedrich Wilhelm IV., den die Zeichen des Vormärz und der Revolution von 1848 dann gründlich verkennenden „Romantiker auf dem Königsthron“. Auf Tatenhausen hatte Stolberg zuvor das „Leben Alfreds des Großen, Königs von England“ (1815) verfasst, einen altständisch-restaurativen Fürstenspiegel in mittelalterlichem Gewand, worin er seine Sicht auf den Monarchen als primus inter pares innerhalb des Adels bekräftigte.
Familie
Der Reichspatriot und feudale Romantiker schrieb und las auf Tatenhausen dank seiner zweiten Frau Sophie Charlotte in keineswegs bescheidenem Exil. Die Mitgift der geborenen Gräfin Redern (1765-1842) brachte ihm finanzielle Unabhängigkeit. Zwischen 1791 und 1793 hatte er sich samt Familie eine Bildungsreise erneut durch die Schweiz, anschließend durch Italien bis nach Sizilien gegönnt. Die Wohnsituation der westfälischen Herrensitze, auf denen er Quartier nahm, gestaltete sich komfortabel. Seine Kinder, die unter anderem in führende westfälische Adelsfamilien einheirateten, waren gute Partien nicht allein durch den weitberühmten Namen des Vaters, überdies ließen die von der Mutter in die Ehe eingeflossenen Summen stattliche Morgengaben zu.
Die Schere im Kopf
Durch die heute teils ramponierten Alleen, die auf Tatenhausen zuführen, wird der Graf beflügelt vom feudal-katholischen spiritus loci spaziert sein, um seine restaurativen An- und Absichten beim Anblick der mächtigen vom Wasser des Schlossteichs gespiegelten Mauern still vergnügt bestätigt zu finden. Victor Stein und mich stimmte bei unserer Wanderung auf Stolbergs Wegen der Gedanke an des Grafen letzte Begegnung mit seinem Sohn Christian versöhnlich. Dieser hatte die Familie im April 1815 auf Tatenhausen besucht. Christian zog in den Befreiungskrieg wider Napoleon. Er fiel im Juni des Jahres in der Schlacht bei Ligny. Mochte sein, der traurige Umstand bewog Victor Stein, Johann Heinrich Vossens Verdikt über den Grafen „Wie Fritz Stolberg ein Unfreier ward“ in die Frage „Ward Fritz Stolberg ein Unfreier?“ umzuformulieren. In dichterischem Betracht war der einstige Stürmer und Dränger es zweifellos. Er ordnete sein Schreiben bloßen Zwecken unter, in seinem Fall der Religion und der politischen Tendenz. Was seine Konversion angeht, so weckt sie einen Verdacht, der die Frage nahelegt, ob der Übergetretene sich nicht spätestens mit der „Geschichte der Religion Jesu Christi“ allzu beflissen ins katholisch-klerikale Fahrwasser begeben hat. Konvertiten wünschen es geistlichen Autoritäten häufig besonders recht zu machen. Stolbergs Freiheit war die des Adels. Hier bedurfte er keiner Erinnerung, dass es diese neuerlich zu erstreiten galt. Doch das hätte der den bürgerlichen Freiheiten zugetane Freund von einst gewiss zuletzt angemahnt.
Friedhofsidylle
Der Tote kehrte ins Tatenhausener Weichbild zurück, um auf dem ländlich-abgeschieden liegenden Friedhof neben dem Stockkämpener St.-Johannes-Evangelist-Kirchlein begraben zu werden. Der 1696 geweihte, im schlichten Stil der Bettelorden errichtete und in den Formen des rustikalen Osnabrücker Barock ausgestattete eher kapellenartige Bau geht nebst früherem Pfarrhaus und einstiger Schule auf eine Stiftung der Tatenhausener Schlossherren gemeinsam mit denen auf Holtfeld zurück. Die Seelsorge für die Diasporagemeinde war Franziskanerbrüdern anvertraut. Kaum ein Romantiker hätte die Lokation malerischer ersinnen können. Heute ein beliebtes Ausflugsziel, wird den Grafen mancher Sonntagsgottesdienst dorthin geführt haben. Die Stockkämpener Fronleichnamsprozession durch Wald und Bauerschaften ist noch immer ein auch volkskundliches Juwel, das Café im vormaligen Pfarrhaus lädt Spaziergänger und Radfahrer ein. Der Friedhof grenzt an Kirchlein und Wald. Der Graf ruht unter menschenhohem Kreuz aus leuchtendweißem Marmor.