Jüdisches Tagesdatum:
16 Kislev 5786

(06/12/2025)

  • Bühne
  • Buch
  • Reise
  • Kunst & Architektur
  • Politik & Gesellschaft
  • Groß in Form
  • Kommentar
  • Podcast

Wer killt Mrs. Wilberforce?

Erschienen: 15. August 2020
Tunneleingänge als Höllenpforten. Foto: Autor

oder Boccherini untermalt die Fahrt zur Hölle

von Karl Peter Herbst

Wer im Urlaub keine Lust auf kommerziell vermarktete Attraktionen hat, mache sich auf die Suche nach versteckten oder verschwundenen Sehnsuchtsorten. Wenig eignet sich da besser als Filmlocations, nachdem man sich die entsprechenden Klassiker zur Reisevorbereitung noch einmal angesehen hat.

Für meine jüngste Londonreise wählte ich die schwarzhumorige britische Kriminalkomödie >The Ladykillers< von 1955, mit Alec Guiness als Professor Marcus, dem kriminellen Untermieter der Witwe Mrs. Wilberforce. Zusammen mit vier Kumpanen aus der Londoner Unterwelt will er einen Geldtransporter überfallen, der im nahegelegenen Bahnhof King’s Cross beladen wird. Um den Ablauf des Coups zu planen und den Tatort auszukundschaften, mietet er für ein vermeintliches Streichquartett zwei Zimmer bei der nichtsahnenden alten Dame. Das Ganze wird untermalt vom dritten Satz aus Boccherinis Streichquintett E-Dur op. 11/5, G 275, den die Ganoven immer wieder von einer Schallplatte abspielen, um Mrs. Wilberforce zu täuschen, die sich über die eifrig probenden Musiker freut. Hätte sie schon damals im Internet Zugriff auf das Boccherini-Werkverzeichnis gehabt, wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass das Ganoven-Quintett in ihrem Haus mit nur einem Cello falsch besetzt gewesen ist.

Luigi Boccherini am Cello. Gemälde von Pompeo Batoni.

Das Set mit dem windschiefen Backsteinhäuschen über dem Tunneleingang, mit Blick aus dem Fenster auf die in der Tiefe durch die Gleisschlucht qualmenden Loks, ist einer meiner Favoriten. Es hat etwas Neusachliches, ich hätte mir ein Foto von Albert Renger-Patzsch von dieser Stadtlandschaft gewünscht.

Das Häuschen wurde für den Film extra am Ende der Frederica Street errichtet. über dem Eingang des Copenhagen Tunnel, ursprünglich gebaut für die Züge der Great Northern Railway von Kings‘ Cross Station Richtung Doncaster und York. Da niemand detailliert-liebevoller Nebensächlichkeiten ausführt als britische Eisenbahnfreunde, gibt es zum Copenhagen Tunnel einen ausführlichen Wikipedia-Artikel: https://en.m.wikipedia.org/wiki/Copenhagen_Tunnel

Neugierig geworden, habe ich mich selbst auf den Weg in den Londoner Norden gemacht. Die rauchgeschwärzten Backsteinfassaden der Frederica Street sind längst gesichtslosen Appartementblocks gewichen, auf der anderen Seite der Bahnlinien stehen planlos hingewürfelte Hallen eines Distributors italienischer Käsespezialitäten und Büros eines Mediendienstleisters. Um einen Blick auf die Bahnstrecke und den Tunneleingang werfen zu können, musste ich, Verbotsschilder ignorierend, den zugemüllten Firmenparkplatz betreten.

Alec Guiness
Bild von Allan warren – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Link

Von dort aus sind die Höllentore gut zu erkennen, in die die Mitglieder des Verbrecherquintetts einer nach dem anderen einfahren, nachdem sie, dramatisch in die Rauchschwaden der durchfahrenden Dampfloks gehüllt, tot in die leeren Kohlenwaggons befördert worden sind, Professor Marcus zu guter Letzt durch ein fallendes Bahnsignal. Auch die Geschichte des Sets von >The Ladykillers< hat ein Liebhaber des Genres allumfassend im Internet dokumentiert: https://www.martinunderwood.f9.co.uk/Ladykillers/. Diese Seite habe ich aber erst im Nachhinein gefunden. Vielleicht hätte ich sonst die kleine Entdeckungstour gar nicht angetreten.

Vorheriger Beitrag
Despotie in Braun und Rot
Nächster Beitrag
Versuch über Rossini

Neueste Beiträge

Reise

Reisevignetten aus der Mark Brandenburg

Erschienen: vor 5 Tagen

Richtung Genthin findet sich eingebettet in die havelländische Fluss-, Seen- und Kanallandschaft die im Ursprung 1745 fertiggestellte Schleuse…

Politik & Gesellschaft

In Zeiten der Seuche

Erschienen: vor 5 Tagen

Um sich zu den gegenwärtig verlautbarten Positionen angemessen verhalten zu können, braucht es die Unvoreingenommenheit und Nüchternheit des wissenschaftlichen Blicks…

Groß in Form

150 Jahre Hermannsdenkmal – (K)ein Grund zu feiern

Erschienen: vor 3 Monaten

Seit 1875 reckt die Kolossalstatue ihr Schwert gen Feind. Anlass genug, sich des Mannes zu erinnern, der dem Teutoburger Wald…

Kaminski liest

Bracht, Helene: Das Lieben danach. München 2025

Erschienen: vor 3 Monaten

In der nordwestdeutschen Kleinstadtbuchhandlung mit gediegenem Sortiment blätterte ich mich durch das Werk ohne Gattungsbezeichnung…

Tipp

Museum Peter August Böckstiegel, Werther (Westf.)

Erschienen: vor 3 Monaten

Lange pendelte er zwischen seinem Atelier in Dresden und dem Elternhaus im westfälischen Werther. Der Maler Felix August Böckstiegel (1889-1951) verkehrte…

Kategorien

Kuratierte Beiträge 64

Bühne 29

Kunst & Architektur 13

Politik & Gesellschaft 9

Buch 7

Kommentar 5

Reise 5

Tipp 4

Kaminski liest 3

Groß in Form 1

KURATIERTE BEITRÄGE

MONOPOL

Erschienen: 2 Juli um 18:57 Uhr
Jordan Wolfson möchte künstlerischen Mehrwert aus dem Tausch virtueller Realitäten…
Beitrag lesen

CONCERTI

Erschienen: 2 Juli um 18:51 Uhr
Michael Kaminski bespricht Gija Kantschelis Unheil vorausahnende und das Gemüt…
Beitrag lesen

TRANSCRIPT VERLAG

Erschienen: 2 Juli um 18:36 Uhr
Das Verlagshaus baut immer wieder auf Open Source. Wunderkammern warten…
Beitrag lesen

HARPER’S MAGAZINE

Erschienen: 2 Juli um 18:15 Uhr
Dean Kissicks Essay über die zeitgenössische Kunst hat das Zeug…
Beitrag lesen

BACHMANN-PREIS

Erschienen: 2 Juli um 17:59 Uhr
Auch wenn die Siegespalme bereits vergeben wurde, bleibt die Lektüre…
Beitrag lesen

THE JERUSALEM POST

Erschienen: 5 Juni um 13:14 Uhr
Ein spätantikes Mosaik aus der Negev-Wüste widerlegt die Klischees von…
Beitrag lesen

THE GUARDIAN

Erschienen: 5 Juni um 12:56 Uhr

Die Literatur der jungen Britin Sara Sams greift mitten hinein ins volle Leben…

Beitrag lesen

NACHTKRITIK

Erschienen: 5 Juni um 12:41 Uhr

In seinem Essay fragt Nicola Bremer nach der gesellschaftlichen Konsequenz eines Theaters…

Beitrag lesen

JÜDISCHE ALLGEMEINE

Erschienen: 5 Juni um 12:17 Uhr

Thomas Mann empfand sich als Freund jüdischer Menschen. Ob diese aber…

Beitrag lesen

ARCHÄOLOGISCHER ANZEIGER

Erschienen: 5 Juni um 12:05 Uhr

Manche seiner Periodika stellt das Deutsche Archäologische Institut zum offenen Zugang…

Beitrag lesen

Kontakt

info@kultur-kaminski.de

Rechtliches

Impressum
Datenschutz

 

© 2025 Copyrights by Michael Kaminski. All rights reserved.

 

Diese Website verwendet Cookies, um Ihr Nutzungserlebnis zu verbessern. Wenn Sie die Seite weiterhin nutzen, stimmen Sie der Verwendung von Cookies zu.